Beginn einer Fahrradreise 2.0

Ich liege noch wach im Bett während das Kindchen sich in den Schlaf gurrt. Morgen soll es tatsächlich los gehen. Der Abfahrtstag schien bis eben noch soweit weg – doch nun steht er vor der Tür. Bis heute bedeutete noch jeder Termin, den wir wahrnehmen mussten, Stress.  Das Kind schläft tagsüber nur im Tragetuch, wenn es geschuckelt wird – und nun zusammen eine Radreise starten?

Ich rede mir zwar gut zu, doch die Frage, ob das so richtig ist, kann ich für mich noch nicht beantworten. Und dann ist es auch schon Morgen und es geht los. Ich sterbe 1000 Tode, als Till das erste Mal das Bein über Sattel und die Deichsel des Hängers samt Baby schwingt und das Rad dabei wackelt. Das Kindchen sitzt brav, während es schaukelt, und schaut heraus. Ich fange an zu singen, damit er merkt, dass wir noch da sind. „In einen Harung jung und schlank, zwo, drei, vier…“ Wohl eher für mich zur Beruhigung, als für ihn. Auf jeden Fall funktioniert es, wir alle werden etwas ruhiger und wir bringen die ersten Meter bis zum Markkleeberger See und in den Clara Park hinter uns. Mir geht dabei durch den Kopf: Wir sind viel zu schwer beladen! Dafür erntet Till aber bereits zwei respektvolle Damen noch oben für das Gewicht, dass er trägt und zieht. Dann ist erstmal Pause, spielen und kuscheln.

Das neue Motto

Die erste Tagesetappe führt uns… ans andere Ende der Stadt. Ja, wir starten sachte, und wollen die Gelegenheit nutzen, um noch eine Freundin zu besuchen. Ebenso verfahren wir an Tag #2. Eigentlich war Halle das Ziel, doch es hat sich so ergeben, dass wir bei guten Freunden auf halber Strecke noch einen Stopp einlegen – und sind am Ende dieses Tages mit Regen und heftigem Gegenwind heil froh über unsere Entscheidung… und auch ein bisschen stolz über die trotz Widrigkeiten geleisteten 22 Kilometer! Und das erst recht, als sich am Abend herausstellt, dass ich in meiner Wetter-app ‚Knoten‘ als Einheit für die Windgeschwindigkeit eingestellt hatte und sich die 30 nicht nur anfühlten wie 60 km/h, sondern es auch tatsächlich 60 km/h waren.

Kreuzen gegen den Wind

Auch Tag #3 reiht sich in Punkto Wetter und zurückgelegte Distanz bei den ersten beiden ein. Heute schaffen wir es tatsächlich bis nach Halle. 17 Kilometer. Nicht daran zurückdenken, dass wir diese drei Etappen ohne Kind an einem guten Tag bis zum Mittag hinter uns gebracht hätten. Aber nun ist es eben eine andere Reise. Und auch ich habe mich verändert, wie ich ein wenig erschrocken feststellen muss, als ich bei unserer Gastgeberin (ein zweifelsohne sehr sympathisches Mädel) erstmal putzen muss, um mich da einigermaßen wohl zu fühlen. Bin ich zu alt für all das hier?

Ach, wir haben bislang immer zu Beginn einer Reise ein Weilchen gebraucht, um rein zu kommen, um von Händedesinfizieren zu Frühstücken-mit-ölverschmierten-Fingern und um vom täglichen Duschen zur Katzenwäsche zu kommen. Ich bin noch optimistisch, vor allem weil unser Kind bis hierher alles sehr gut mitmacht. Und so lassen wir uns auch von dem anhaltenden schlechten Wetter nicht die Laune verderben, nehmen uns öfters eine Bezahlunterkunft und schieben das erste Campingerlebnis noch ein wenig vor uns her… irgendwas mit Mischkalkulation… die Bilanz schieben wir auch noch ein wenig.

Unser neues Set-Up mit Anhänger

Unser Weg zur Algarve führt uns zunächst nach Norden. Ja, nicht die direkteste Verbindung, ich weiß, aber wir wollten schon lange einmal Freunde in Dänemark besuchen und so haben wir kurzentschlossen das Land der glücklichen Menschen zur Route nach Portugal hinzugefügt. Wir sind ohnehin so langsam unterwegs, da fällt doch der ‚kleine Abstecher‘ kaum ins Gewicht. Und die totale Entschleunigung hat auch etwas für sich. Auch wenn der Himmel grau ist, bleibt viel mehr Zeit zum Erfassen der Umgebung: ich überlege beim Passieren der Felder wieder einmal (jedes Frühjahr aufs Neue), welches Getreide das mit den ganz kurzen Grannen war. Der Weizen? Er ist noch ganz unreif und grün. Obwohl, das ist doch dann die richtige Zeit zum Ernten von Freekeh, oder? Leckere Gerichte der levantinischen Küche, die wir auf dem ersten Reiseabschnitts kennengelernt haben, kommen mir ins Gedächtnis. Dazu gehört auch der unreife Weizen – Freekeh. Ist das nicht die Idee für Schlecht-Wetter-Sommer? Unreif ernten, teurer verkaufen und das schlechte Wetter schlechtes Wetter sein lassen? Ich überlege, an wen ich die Idee verkaufen kann und denke nun an Falafel. In Rapsöl ausgebacken. Es zieht ein Rapsfeld an uns vorbei. Dieser ist schon reif, ebenfalls grün, nicht mehr gelb; und der Mohn in voller roter Blüte säumt zusammen mit den blauen Kornblumen die Feldränder. Dazwischen finden sich weiße Blüten, noch bevor ich genau erkennen kann, was es ist, bläst uns der starke Wind den Duft in die Nase: was für eine Kamillenbeatmung, besser als jede vom Arzt verordnete Inhalation.

„Kurze“ Pausen müssen sein

In den häufigen Pausen erkunden wir die Umgebung: wir fassen Gras an und schnuppern am Holunder, der uns dabei Blütenstaub als gelbe Punkte ins Gesicht tüpfelt. Dann ist das Baby wieder müde und wir fahren weiter. Die Schlafesstille wird unterbrochen von einem lauten ‚knack‘, und der treue Blogleser weiß sofort: das Tretlagerproblem ist zurück. Oh, oh, grummelige Stimmung ist angesagt. Ich hebe die abgefallene Kurbel von der Straße auf und schnappe mir das Baby. Während Till das Corpus Delicti mit viel Loctite wieder an seinen vorgesehenen Platz in der Fahrradmitte montiert, muhen wir den Kühen auf der Weide zu. „Muh, muh!“ Schneller als erwartet steht er neben uns: „Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?“ Wollen wir natürlich nicht, und so setzen wir die Fahrt mit befestigter Kurbel und Hoffnung auf festen Halt fort.

Wir folgen dem Lauf der Saale und später dem der Elbe. Die Fahrt entlang der Flussradwege ist flach, und um Magdeburg scheint uns das erste Mal die Sonne. Endlich. Das ist auch das erste Mal, dass wir die Fahrt so richtig genießen. Wir radeln durch kleine verschlafene Ortschaften, in denen die Zeit still zu stehen scheint. Weiße Blütentrauben hängen an den Eschen. Storchen und blaue Libellen begleiten uns auf unserem Weg. Es gibt viele Schmetterlinge und den Kuckuck hören wir rufen. Der Holunder verliert die ersten Blüten und sie liegen wie Sterne am Himmel auf dem dunklen Asphalt. Wir genießen auch, dass wir so ein entspanntes Kind haben. Ich stelle mein Rad so dämlich ab, dass es nach einer Minute umfällt und Tills Rad samt Hänger und Baby mit zu Boden reist. In Panik stürzen wir zum Hänger – das Baby schläft (ein Hoch auf 5-Punkt-Gurt und Überrollkäfig). Till bleibt an einem Poller mit dem Rad vom Hänger hängen – das Baby schläft. Historisches Kopfsteinpflaster im Zentrum der Dörfer schüttelt uns durch – das Baby schläft. ☺️

Rast im Grünen

Über die warmshowers Plattform kommen wir nach einer Woche Fahrt bei einem netten Pärchen unter, das uns mit leckerem Ofengemüse und einem warmen Platz für die Nacht versorgt. Wir verbringen einen schönen Abend zusammen, ich verabschiede mich mit dem Baby aber bei Zeiten ins Bett. Als Till nachkommt, bringt er flüsternd die Botschaft: wir müssen morgen um 07.00 mit den Hosts die Wohnung verlassen. D.h. 06.00 Uhr aufstehen, was wiederum bedeutet, das Baby zu wecken und dann noch zwei Stunden am kühlen Morgen in der Stadt vertreiben, bevor es Zeit für das nächste Schläfchen und die Weiterfahrt ist. Wir haben als unerfahrene Eltern sehr schnell ein paar wichtige Regeln gelernt. Eine davon lautet: wecke niemals das Baby! Ich bin gespannt, was unser Kind morgen früh dazu sagt.

Am folgenden Morgen ist David um 05.30 hellwach, pünktlich 07.00 Uhr hieven wir all unser Gepäck aus der Wohnung und 07.20, als wir die Räder gerade auf der Straße fertig gesattelt haben, ist wieder Schlafenszeit und damit Zeit für den Fahrtantritt – perfektes Timing Baby! Auch fühlen sich die 9°C in der Sonne gar nicht so kalt an. Ich bin froh, manchmal fügt sich alles einfach passend zusammen. Der frühe Start bringt uns die Sicht auf Rehe und Hasen, und wir sind frohen Mutes in Richtung Campingplatz unterwegs – zum Abenteuer Zelten. Wir haben im Garten einmal probegezeltet, das Resultat war noch nicht so gut. In dieser Nacht liegt immer zwischen den Matratzen, vom Knarzen wird das Baby immer wieder wach und ist unruhig und beim Umarmen in der kalten Nacht wird der Arm so kalt. Erst als ich ihn mit auf meine 51 cm breite Matratze hole, schläft er ein längeres Stück. Wie viel ich dabei schlafe, könnt ihr euch ausmalen 😅

Doch Till wäre nicht mein Mann, wenn er nicht gleich am nächsten Tag das Internet nach einer Lösung umkrempeln würde. Er findet eine Doppellluftmatratze, die für mich und das Baby perfekt wäre. Dass sich gleich darauf unsere beiden Luftmatratzen auflösen und wir ohnehin Ersatz benötigen, macht die Entscheidung zur Investition leicht.

Camping als neue Herausforderung

So kommen wir langsam in das Land, in dem uns die Menschen auch am Nachmittag mit „Moin“ grüßen. ☺️ Hier verweilen wir immer wieder. Teils, weil uns der Regen dazu zwingt, teils weil sich durch tolle Menschen tolle Gelegenheiten zum Verweilen bieten. So treffen wir eine gute Freundin in Lüneburg, die das 9-€-Ticket nutzt, um uns noch einen Besuch abzustatten. Ebenso sehen wir alte Bekannte in Lüneburg und Hamburg. Das tut gut.

Am Deich entlang

Nach der Auszeit mit Freunden wollen wir nun wieder ein bisschen mehr radeln. Für den folgenden Abend haben wir einen Host gefunden und prompt ereilt uns eine Einladung zu einem Hoffest mit Livemusik von einem schwedischen Studentenorchester im Tiegerentenbus – da können wir nicht widerstehen. Wir bleiben also noch einen Tag, um dem Spektakel beizuwohnen. Am Abend bietet eine nette Dame neben mir ganz selbstlos an, gerne mal das Kind zu halten. Einmal in Ruhe zu Abend essen? Das muss ich nicht lange nachdenken. Froh über das Angebot reiche ich das Kind hinüber – David ist bei allen glücklich, solange er ein wenig herumgetragen wird. Zunächst bin ich froh, die beiden scheinen gut miteinander zurecht zu kommen, aber als sie mit ihm zur lauten Musik wild zu tanzen beginnt, ihn dabei rumschüttelt und er gar nicht weiß, wie er gucken soll (er verzieht zwar das Gesicht, ist aber so überfordert, dass er nicht mal weinen kann) ist es mir nicht mehr einerlei. Ich errette ihn daher mit einer fadenscheinigen Ausrede. (Muss jetzt dringend in die Badewanne…) Aber das Abendessen war gut 😅

Brücke in Hamburg

Die ungeplante Rast kommt auch meinem Leistungseinbruch durch Milchstau entgegen. Eine Freundin meinte, vielleicht liegt es an einem falschen BH. Gut, denke ich mir am nächsten Morgen und fahre früh ohne los – ganz schlechte Idee mit harter, schmerzender Brust ohne Stütze über schlechte, holprige Radwege! Zählt alles nichts, ich muss ihn beim ersten Stopp vorm Rewe wieder anziehen.

Zunächst kommen wir nur sehr gemächlich voran, als ich wieder fitter bin, ist erneut viel Regen gemeldet. Jeder Wetterbericht sagt was anderes und am Schluss behält keiner recht. Auf der Suche nach einer bezahlbaren Unterkunft für den folgenden Tag krempeln wir unsere Route noch einmal tüchtig um und landen viel weiter im Westen als ursprünglich geplant. Aber dadurch fahren wir den Nord-Ostsee-Kanal einmal fast komplett ab und wir können die großen Schiffe dort sehen. Trotz triumphierenden 64 km an diesem Tag (danach fühlen wir uns wie nach 150 km!) verbringen wir doch eine nicht unerhebliche Zeit unserer Reise in den Norden mit Pausen. Doch so lernen wir das Land der Dichter und Denker besser kennen, eine Gelegenheit, die sich uns bei schnellerer Fahrt wahrscheinlich nicht in der Art geboten hätte. Gleichzeitig freuen wir uns aber bereits auf die erste Auslandsreise mit unserem kleinen Begleiter. Dänemark, wir kommen.

In der Pause entdecken wir einen Kartoffelkäfer

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1 Jahr zuvor

Schöner Bericht. Aber er hinkt der Zeit ein wenig hinterher…

Till Zimmer
1 Jahr zuvor

Tja… er wäre bestimmt interessanter wenn er der Zeit voraus wäre, aber…

Onkel Klaus
1 Jahr zuvor

Na, endlich geht’s los und ich kann bald wieder meine pointierten Kommentare absondern…
Gute Reise !

Mutti
1 Jahr zuvor

Freut uns, euch wieder auf eurer Reise begleiten zu dürfen. So können wir wieder mit euch lachen, weinen, zittern und begeistert sein. Danke, das ihr uns mitnehmt. Ganz liebe Grüße aus dem V-Land

Ingrid und Dieter
1 Jahr zuvor

Endlich lasst Ihr uns wieder an Euren Reiseabenteuern teilhaben. Wir freuen uns auf Eure Berichteund werden Euch auch weiterhin in Gedanken folgen. Viel Glück, immer viel Luft auf den Reifen und ein zuverlässiges Tretlager.

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