Ein Türkischer Fantasy Roman

Die frische und ruhige Nacht auf dem Gipfel des Berges ist herrlich und der Morgen ist es auch. Während wir 500 m vom Berg hinab ins Tal fahren, taucht das goldene Licht der aufgehenden Sonne die Hänge in warme Farben und spiegelt sich auf der immer wieder aufblitzenden Oberfläche des Hoyran Sees im Hochtal wider. Ich muss mir für die Abfahrt tatsächlich einen Pullover anziehen! Es ist noch sehr ruhig, wir können die gesamte Breite der Straße für eine entspannte Abfahrt nutzen! Ob das an der frühen Stunde liegt, oder daran, dass heute der erste Tag von Kurban Bayramı, einem der höchsten islamischen Feste, ist. Ozan hatte uns bereits dahingehend vor dem Opferfest gewarnt, dass in dieser Woche 5 Tage lange die meisten Geschäfte und Restaurants geschlossen haben werden. Wie haben also unseren Vorrat an Keksen aufgestockt.

Nach einer steilen Auffahrt und einer Nacht auf dem Gipfel geht es am Morgan hinab an den Hoyran See

Wir fahren entlang des Nordufers des Sees, dann durch hügeliges Land mit Feldern. Es ist Kartoffelgegend und die Bauern bieten am Straßenrand ihre Schätzchen in Säcken zu 20 kg an. Weintraubenregion war für uns wie Schlaraffenland. Melonenregion…hm…schon nicht mehr so radfahrerfreundlich. Aber Kartoffeln… als Snack eher schwierig. Später nimmt der Verkehr dann doch zu, jedes zweite Vehikel ist mittlerweile so ein knatterndes Patpat. Auch die Temperaturen nehmen wieder zu, ich werde gleich unten am See meinen Pulli los, und wir sind am Vormittag dankbar für eine eiskalt sprudelnde Quelle.

Gegen Mittag erreichen wir Yalvaç. Wir halten, um uns umzusehen. Sofort kommt ein Mann auf uns zu und fragt, was wir suchen. Ein Café mit WiFi, antworten wir. Zunächst versteht er nicht. „Kahve, Internet“ versuchen wir es erneut. Ah, jetzt versteht er. Er führt uns mit seinem riesigen Tablett in der Hand die Straße hinunter und präsentiert uns stolz: hier, das Internetcafé. Lauter Jugendliche sitzen bei Spielen und Zocken an den Computern. Hm, nicht ganz, was wir suchen. Doch der Besitzer Burhan nimmt uns sofort in Empfang, lässt uns an einem Tisch vor dem Café Platz nehmen und bringt uns erstmal einen Çay. Wir erklären ihm, dass wir eigentlich WiFi benötigen, woraufhin er einen Hotspot seines privaten Telefons für uns öffnet. Till erkundigt sich dann, ob er denn seinen Laptop an ein LAN-kabel des Cafés stecken könnte. Es flammt Hoffnung für den Upload des Videos in uns auf. Kein Problem, meint Burhan und die Drei (Burhan, Till und Laptop) verschwinden nach drinnen. Ich schlürfe Çay. Dann kommen zwei davon wieder (Burhan und Till) und wir schlürfen gemeinsam. Till strahlt: „superschnelles Internet! 2,5 Stunden sagt der Upload dauert es hier nur!“ Das ist hervorragend, schließlich wollten wir ohnehin eine ausgedehnte Mittagspause machen.

Burhan ist ein unglaublich angenehmer Zeitgenosse, er berichtet uns von seinem Leben, seinem Laden, liefert Erklärungen für unsere Fragen (z.B., dass die Knatterdinger Patpats genannt werden und die Bauern der ärmlicheren Landregionen sich eben nichts anderes leisten können). Mit den umgerechnet 0,30€/Stunde Internetnutzung wird er nicht reich, aber das reicht ihm. Er will die Kids ja auch nicht ausnehmen, sondern glücklich machen, erklärt er uns. Bei dem Preis haben wir auch keine Bedenken, falls der Upload doch etwas länger dauern sollte.

Mit Burhan und den Nachbarn vor seinem Internetcafé in Yalvaç

Die Zeit verfliegt bei viel netter Unterhaltung. Eine ältere Dame kommt des Weges und spricht Burhan an. „Das ist meine Mutter“ erklärt er uns. Er stellt uns auch ihr vor und übersetzt dann ihre Antwort: „Sie lädt euch heute zum Abendessen ein“. Wir sind sehr überrascht und versuchen höflich abzulehnen. „Nein, nein, wir müssen dann ja weiter, bevor es dunkel wird.“ Aber so richtig kommen wir aus der Nummer nicht raus und enden mit: gut, einen Tee trinken wir gerne mit ihr. Dann verabschiedet sie sich. Wir fragen bei Burhan nach, ob das wirklich ernst gemeint ist, sie muss uns nicht einladen, wird ihr das auch nicht zu viel? Nein, wenn sie es doch gesagt hat, keine Sorge, bestätigt er.

Wir ziehen also mit ihm als Übersetzer zur Wohnung seiner Eltern. Die Räder bleiben derweil vor dem Laden, der Nachbar Murat passt auf alles auf (Laden und Räder). Natürlich bleibt es nicht bei dem Tee. Als wir die Wohnung betreten duftet es bereits aus der Küche. Uns wird zum Tee ein Kahvaltı serviert, als Snack, da es ja noch zu früh zum Abendessen ist. Brot, Käse, Gemüse, Pide, gefüllte Weinblätter, Obst. Es ist sagenhaft. Dann wird uns noch eine große Tüte für die Fahrt mitgegeben, ein Tuch für mich und Socken für uns beide. Herzlich umarmt mich die Mutti, dann verabschieden wir uns auch von Burhan. Wir wollen den Tee und die Internetnutzung in seinem Laden zahlen. „Das kommt gar nicht in Frage, ihr seid meine Gäste!“ Wir versuchen immer wieder zu zahlen, Gäste ist das eine, aber das Café ist doch Geschäft, das ist was anderes. Wer schon einmal versucht hat, gegen eine türkische Einladung zu argumentieren, der weiß, dass wir keine Chance haben.

Einladung bei Burhans Eltern

Im Dämmerlicht fahren wir aus der Stadt, bis an den nächsten Feldrand und bauen zwischen ein paar Bäumen unser Zelt auf. „Fremde Leute“ murmle ich zu Till hinüber „Du musst dir mal überlegen, wir sind für die doch fremde Leute. Ausländer.“ Ich kann das kaum fassen, so unglaublich ist dieser Tag für mich. Die Freundlichkeit, die Hilfsbereitschaft, der geglückte Videoupload, die Familie und das Kahvaltı, das Tuch (das kann ich wirklich gut gebrauchen! Stellt euch vor, seit dem Tag, an dem ich meinen zerschlissenen rosa Buff nach insgesamt 24 Monaten Radreise aussortiert habe, ist auch der Nachfolger verschollen und ich habe jeden Tag bei dem Wind die Haare in Augen und Mund). Noch beim Zähneputzen und noch beim Einschlafen fesselt mich dieser umgekehrte Rassismus: eben, weil wir Ausländer sind, sind alle so unsagbar freundlich zu uns. Kurz überlege ich, ob das Rascheln nur das Gras ist, oder ein Tier, das gerade das Obst in der Tüte entdeckt hat, doch die Überwältigung behält die Oberhand und ich sinke ohne Obstsorgen in den Schlaf.

Über die Dörfer ist es am Morgen ruhig und malerisch, wenn wir durch Gegenwind und auf rauem Asphalt (schon wieder etwas, das uns an Australien erinnert, wir nennen ihn liebevoll „Bremsasphalt“) auch nur langsam vorankommen. An diesem Morgen sehen wir die Menschen aus den Moscheen kommen – es ist der Höhepunkt des Opferfestes. Erst fahren die mit Tieren beladenen Pickups oder Lastwagen in Richtung des Schlachters, dann mit den ausgebluteten Ochsen und Schafen wieder zurück. Im Hof vor dem Haus sehen wir dann die Familien die Tiere zerlegen. Später werden diese zubereitet, ein Teil zum Festmahl verspeist, ein Teil an die Familie weiter gegen und der dritte Teil den Armen gespendet – so sieht es der Koran vor. Schön finde ich den Anblick nicht, doch so ist es Tradition. Unsere Tradition zur Frühstücksstunde: Ayran, Käse und Brot. Wir finden einen geöffneten Minimarkt – überleben gesichert 😉

Durch das türkische Hochland

Gegen Mittag wollen wir im Schatten eines Baumes rasten. Wir fahren von der Straße ab und lehnen die Räder an den Baum. Kühe grasen daneben ein paar trockene Büschel ab, ohne Zaun, aber das stört uns nicht weiter. Wohl sollte uns aber der Bulle kümmern, der hier ebenfalls mit auf der Wiese steht, langsam auf uns zu kommt und mit den Haufen scharrt. Er hält bereits den Kopf gesenkt und die Hörner uns entgegen. Wir hören ein Rufen, der Viehhirte hat die Szene entdeckt und den Ernst der Lage erkannt. Er bedeutet uns hinten den Baum zu gehen und sprintet schreiend mit einem Stock in der Hand wedelnd auf den Bullen zu. Gerade rechtzeitig, er schafft es tatsächlich ihn von seinem Plan, uns auf die Hörner zu nehmen, abzubringen und ihn in Richtig Herde zu scheuchen. Puh. Ohne Sprache verständigen wir uns darauf, dass wir hier wohl nicht die Mittagspausen verbringen. Wir bedanken uns und schieben auf die Straße zurück.

Schattenplätze sind hier weit und breit rar und wir bereits sehr müde. In der Mitte einer trockenen Wiese schräg gegenüber steht noch ein Baum, also überlegen wir, diesen anstelle des Kuhbaumes zu nutzen. Schnell ist es beschlossene Sache, etwas Brot verspeist, die Matte ausgebreitet und wir schlummern beide selig hinweg. Als wir langsam wieder erwachen und ich mich noch etwas matschig aufrichte, meine ich zu Till: „Jetzt sind ja hier schon wieder Kühe. Die sehen aus, wie die Herde vorhin.“ „Es ist die Herde von vorhin und da ist auch der Bulle.“ Er hat uns bereits erspäht und ins Visier genommen. Diesmal ist der Hirte nicht zu sehen. Schnell packen wir zusammen, er lässt den Blick nicht von uns, kommt langsam näher. „Ich schieb schon mal los“ meine ich nervös, während Till noch die letzten Schnallen an seinem Gepäck festzieht, und bewege mich zielsicher festen Schrittes in Richtung Straße. Von der trennen uns noch 50 m. Hingucken? Nicht hingucken? „Kommst du?“ rufe ich, ohne mich umzudrehen. Schnell weiter, ohne hastige Bewegungen. 40, 30, 20, 10 und dann schnell das Rad den Hang hinauf wuchten. Ich hoffe Till kurz hinter mir. Der Bulle scharrt und es blitzt in seinen Augen. Ich schwinge mich in den Sattel und möchte schleunigst Land gewinnen. Till setzt erstmal seinen Helm auf, holt nochmal die Kamera heraus. Ich glaube es gleich. „Ich würde jetzt lieber reinhauen“ rufe ich und trete los. Dann fährt auch Till an.

Begegnung mit dem Bullen (Bild nur aus sicherer Distanz!)

Das Land bleibt gelb und durchzogen von abgeernteten Feldern. Hirten mit ihren Schafherden ziehen auf Eseln über die Felder und wirbeln dabei große Staubwolken auf. Zunächst frage ich mich, was die Schäfchen denn hier fressen mögen. Bald erkennen wir: sie grasen die abgemähten Felder ab, hinterlassen dabei ihren Dung, eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Gegen Abend sprengen wir die 5000-Kilometer-Marke seit Beginn unserer Reise und nähern uns zufrieden einem kleinen Wäldchen. Kurz bevor wir abbiegen, passieren wir eine Gruppe rastender Motorradfahrer am Straßenrand. Wir kommen ins Gespräch und sie erkundigen sich, wo wir denn auf diesem Weg entlang wollen. Ein wenig verunsichert meinen sie zu uns: „Hier, diese Straße entlang, das ist alles so. Nur Dörfer, keine Stadt.“ Wir: „Ja, es ist ruhig und wenig Verkehr, das ist toll, nicht?“ Ich denke, sie verstehen nicht. Die Einladung zum Tee müssen wir ausschlagen, ihr Dorf ist für uns noch zu weit entfernt und das Wäldchen zu verlockend, um es zu versuchen.

Hallo Eselchen

Bevor wir nach Konya einfahren, machen wir einen Abstecher zur antiken Stadt Sille. Sie ist 8000 Jahre alt und hier begegnen wir das erste Mal den in den Felsen geschlagenen Höhlen, die den Menschen damals als Wohnung, Kirche und Gräber dienten. In der heutigen Stadt schläft noch alles. Es ist 07:00 und wir sind die einzigen weit und breit, wir genießen die Ruhe, streifen durch die Gassen und Höhlen und rollen dann die letzten Kilometer nach Konya. Hier pausieren wir und machen uns erneut an die Videobearbeitung. Das ganze Videozeugs frisst viel Zeit, dazu funktioniert das Programm immer wieder nicht, stürzt ab, speichert nicht, verliert Funktionen, die bereits erfolgreich liefen. Es ist so frustrierend. Wir finden keinen richtigen Rhythmus dazu und keine passende Arbeitsverteilung und giften uns nur noch an. Tage später wird Till herausfinden, dass das kontrollierte Internet in der Türkei viele Elemente blockiert und das Programm über einen VPN viel stabiler läuft. Zumindest ein Problem wäre damit gelöst.

Bevor es am nächsten Tag weiter geht, planen wir am Abend vorher unsere Strecke nochmal komplett um. In die Routenplanung nehmen wir alle Empfehlungen unseres Postkontaktes Arif auf. Die Strecke und die anstehenden Höhenmeter verdoppeln sich damit, doch wir sind froh für die guten Vorschläge. Das ist es doch, was die Reise ausmacht. Zeit haben wir ebenfalls. So wie es aussieht, ist unser Paket gerade erst auf dem Weg ins Flugzeug nach Istanbul.

St. Paulus Kirche in Konya, die einziges aktives christliches Gotteshaus der Stadt

Wir entfernen uns dazu zunächst wieder von den Bergen der letzten Tage, die den Horizont säumten. Gelbe abgeerntet Felder begleiten uns. In der Morgensonne leuchten die Stoppeln golden, später ist es nur ödes Farmland. Auch wenn es nicht so aussieht: hier liegt die Kornkammer des Landes. Dabei haben wir Gegenwind und ich fahre den gesamten Tag in Tills Windschatten. Viel verpasse ich bei der Landschaft gerade nicht, und bei dem Blick auf sein Hinterrad geht mir immer wieder durch den Kopf: ich muss unbedingt Fahrrad putzen. Mei, was ist das für eine dreckige Nabe, und dreckige Felgen. Trotz Windschatten fühlen sich gerade Abfahrten bei dem Gegenwind an, als würde man beatmet. Am Ende des Tages fühlen sich meine Beine an, wie nach einer Bergetappe.

Wir landen am Nachmittag in einem Café in Özkent. Es wirkt sehr westlich und modern, wir fragen nach WiFi. Leider gibt es keines, meldet der Angestellte. Der Nachbartisch hat unser Anliegen aber mitbekommen, sofort kommt einer der jungen Männer herüber und macht über sein Telefon einen Hotspot für uns auf. Wir sind überrascht, danken und bestellen einen Çay. Insgesamt trinken wir in dem Café vier Tee, immer winkt uns ein anderer zu, setzt sich ein anderer zu uns und zahlt ein anderer! Unglaublich. Auch in dem Çiğ köfte-shop gegenüber, bei dem wir unser Abendessen holen möchten, werden wir sofort von einem Österreich-Türken auf Heimaturlaub angesprochen und er lässt sich nicht davon abhalten, unsere Dürüm zu bezahlen. Über Gastfreundschaft der Leute hier könnte man ein mehrbändiges Werk schreiben. Und ich glaube, für uns als Deutsche würde es wie ein Fantasy-Roman wirken.

Im Land des Fantasy-Romans?

You might also enjoy

Abwechslung vom Radreisealltag

Nach 7 Monaten Radreise waren wir an der Algarve, Südportugal angekommen. Die Feiertage haben wir ganz ruhig zu dritt verbracht, mit einem Weihnachtsspaziergang über die

Algarve und Geburtstagskuchen

Während wir noch in Lissabon verweilen, blicken wir bereits im Geiste in Richtung Algarve. Wenn wir dort überwintern wollen, sollten wir so langsam einen Plan

Portugals Atlantikküste bis Lissabon

Nun haben wir Portugal endlich erreicht. Als ich im Rückblick meine Notizen durchlas, meinte ich, von Erleichterung und Happiness zu lesen. Doch stattdessen herrscht da

5 1 vote
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

6 Comments
Inline Feedbacks
View all comments
Susi
2 Jahre zuvor

Ach ist das schön zu lesen. Es ist immer wieder unglaublich mit welcher Gastfreundlichkeit ihr empfangen werdet. Toll ein bisschen dabei zu sein 😘

Jan
2 Jahre zuvor

..und so spannend. Ich habe euch schon auf den Hörnern dieses Bullen gesehen!

Ingrid und Dieter
2 Jahre zuvor

Es ist füruns so gut zu lesen, welche Gastfreundschaft Euch entgegen gebracht wird. Und ein bissel dürfen wir ja dabei sein. Danke für die schönen Berichte.

6
0
Wir würden gerne wissen ob es dir gefällt?! Bitte hinterlasse einen Kommentar.x