Entlang des Camino Francés – mit seinen Höhen und Tiefen

Am nächsten Morgen warten wir sehnsüchtig im Café gegenüber, bis sich die Luft etwas erwärmt hat und wir losfahren können. Es geht entlang einer großen Bundesstraße, die aus dem Tal herausführt, erneut auf ins Gebirge. Auch die Fußpilger nehmen diesen Weg. Bereits zur Frühstückspause merken wir unsere Knochen und sind froh über die Bank auf einem kleinen Rastplatz. Auch viele Fußpilger halten kurz an dieser Stelle. Nach einer Weile bemerken wir eine Bauchtasche, die jemand dort hat liegen lassen. Geldbeutel, Papiere, alles drin. „Der war wohl gerade Geld holen“ meint Till. Oh je, der arme Italiener! Vielleicht bemerkt er es und kommt zurück? Till erinnert sich sogar noch an den Mann, dessen Foto der Ausweis zeigt. Wir nehmen die Tasche an uns, doch er kommt nicht zurück. Wir durchsuchen alle sozialen Medien, finden ihn auf Facebook und schrieben ihm eine Nachricht, doch er antwortet nicht. Wir sprechen alle nun anhaltenden Pilger an, vielleicht kennt ihn jemand und weiß, was sein Etappenziel für heute ist. Die Chancen sind nicht klein, schließlich begegnen auch wir den gleichen Personen häufig wieder. Doch keiner kennt den Mann.

Als es Zeit zur Weiterfahrt ist, nehmen wir die Tasche mit und halten die Augen offen. Eventuell sehen wir ihn. Doch ab hier laufen die Fußpilger zum Teil andere Wege, und wir sehen ihn nicht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist sein Etappenziel Villa Franca. Das könnte er um die Mittagszeit erreichen und es ist wieder ein beliebter Haltepunkt, bevor es steil ins Gebirge ansteigt. Wir erreichen den Ort nach einer Fahrstunde und streunen durch die Straßen. Eben weil es ein beliebter Halt ist, gibt es auch viele Herbergen und Hotels. Und wahrscheinlich ist er noch gar nicht da. Und selbst wenn, kann er ja nirgends einchecken, weil er weder Geld noch Ausweis hat. Wo fangen wir denn da an zu suchen? Wir drehen noch eine Runde und dann zielt Till bremsend markant rechts auf den Bürgersteig zu. Was hat er entdeckt? Ah, einen Polizisten. Der Mann spricht kein Englisch, also machen wir per Pantomime vor, dass wir die Tasche gefunden haben und wollen, dass sie seinen Besitzer wieder erreicht. Er versteht und sagt dann „Ok, we will find the man!“. Ich bin froh darüber, dass er sich kümmern will. Als wir weiter durch eine Schlucht mit schroffen grauen Felsen zu beiden Seiten langsam ins Gebirge aufsteigen, frage ich mich, ob wohl Korruption in Spanien eine Rolle spielt. Ob er die Tasche wieder bekommen hat, erfahren wir nicht.

Wir fahren nicht mehr sehr viel weiter an diesem Tag. Gerne wäre ich heute um 700 m aufgestiegen und hätte damit die Hälfte der erneuten Gebirgsüberquerung hinter mich gebracht. Doch die Brieftaschenaktion hat uns zeitlich etwas nach hinten geworfen und es mangelt im weiteren Verlauf an erreichbaren Herbergen. So stranden wir am frühen Nachmittag in Trabadelo – noch vor dem Erreichen der Aufstiegsmitte – beschließen aber, hier zu bleiben. Der Ort ist winzig, hat drei Herbergen und liegt inmitten des engen Tales, zu dessen Seiten sich die Felsen emporziehen. Das Grau wird von viel frischem Grün der Bäume und wenigen Wiesenstücken unterbrochen. Es hat etwas Bedrohliches und doch Besänftigendes zugleich, und wäre ein wunderbarer Ort, würde nicht auf der anderen Seite die Autobahn laufen, das faszinierende Bild stören und ein dumpfes Dröhnen hinterlassen.

Till muss ein Dröhnen am Fahrrad beseitigen, doch wir sollten keine Zeit bei der Suche nach einer Herberge verstreichen lassen, meint er zu mir. Die städtische Herberge hat geschlossen, also versuche ich es in der kleinen privaten Vermietung. Der Zugang erfolgt über eine Gaststube im Erdgeschoss, die zur Mittagszeit gut besucht ist. (soll heißen zwei der drei Tische sind besetzt) Der Besitzer ist mit Pfannen in der Hand in der Küche beschäftigt und erklärt mir auf meine Anfrage nach zwei Betten hin, dass er noch zwei Betten in der Bibliothek im Korridor hat. Ich soll doch mal die Treppe rauf in den 1. Stock steigen, da könne ich es mir ansehen. Und genau wie beschrieben ist es. Am Ende des Korridors, von dem aus ein paar Zimmer abgehen, finden sich Regale mit Büchern und eine Couch, dazwischen zwei Betten. 🤷 Die nehmen wir.

Unser Schlafzimmer und Bibliothek

Aus der Küche duftet es herrlich und im Internet loben alle Bewertungen das Essen, daher lassen wir uns von der Stimmung einnehmen und willigen in das gemeinsame Abendessen vor Ort ein – und wir werden nicht enttäuscht: ich bekomme die Vegi-Variante und das Baby kleingeschnittenes Gemüse ohne Salz (David isst das 1. Mal seit Tagen wieder gut!). Es ist ein herrlicher, angenehmer Abend gemeinsam mit allen 10 Gästen. Und das Beste: Babybespaßung durch Koch und seine Frau während des Hauptgerichtes inklusive. Unbezahlbar.

Ebenso goldwert ist der Tipp zur anstehenden Route übers Gebirge, den uns der Wirt gibt. Während des Nachtisches fällt das Gespräch zufällig auf unsere geplante Strecke entlang der Hauptstraße (flachster Anstieg). Er meint dazu: „Nein, nicht fahren!“ Man kommt von hier noch etwa 10 km, dann sei die Straße gesperrt. Wenn man dennoch weiterfährt (nach 10 km Gebirgsaufstieg und passierbarer Barriere wäre ich definitiv nicht umgedreht) steht am nächsten Kreisverkehr die Polizei und wartet nur auf solche wie uns, um abzukassieren.

Damit hat sich die Investition in ein Abendessen doch zusätzlich gelohnt. Als wir im Bett liegen, planen wir also um, Es gibt einen weiteren Weg über das Gebirge, über sehr viel kleinere Nebenstraßen, über Schotter und sehr viel steiler. Entlang dieser Route ist in Entfernung einer Tagesetappe (soweit man das bei der anstehenden Mamut-Etappe eben abschätzen kann) keine Unterkunft buchbar. Und was bin ich froh, dass wir einige Stunden zuvor entlang der Hauptstraße keine Unterkunft mehr buchen konnten. Die läge nun unerreichbar auf dem gesperrten Stück.

Mit einem Stück Kuchen und Keksen bewaffnet (mehr Proviant hat der Minimarkt nicht hergegeben) wagen wir uns an dem Aufstieg um 750 m auf 1330 m. „Ich will ja keinen Druck aufbauen, aber ab dem Nachmittag soll es regnen.“ meine ich beim Losfahren. Der erste Teil des Aufstieges entlang der Schlucht ist atemberaubend (wegen des Anstiegs? Oder der Schönheit?). Es sieht oft aus, als ob man in ein Dead-end fährt, aber dann geht die Straße in die nächste Kurve und es geht doch weiter. Es ist Grün, Bäche plätschern. Dann steigt die Straße steil an. Die Zeit für die erste Pause ist dran und sobald ein weniger steiles Stückchen kommt, wollen wir halten – doch es steigt steil, steil und lässt nicht nach. Wir müssen selbst im letzten Gang Slalom fahren, um den Anstieg bewältigen zu können, dabei sind wir für die Fliegen ein gefundenes Fressen. Irgendwann fallen wir einfach an einem Abzweig am Straßenrand vom Rad und erklären die Pause für eröffnet. Es ist alles andere als ein schöner Rastplatz, aber es mangelt an Alternativen. Zu einer Seite steigt der Hang steil an, zur anderen fällt er ebenso ab. Das bisschen Gras am Straßenrand ist nass und taugt nicht zum Spielen. Doch zum Glück ist die winzige Straße, die wohl zwei ebenso winzige Dörfer miteinander verbindet, kaum befahren. Nur ein paar sehr sportliche Rennradfahrer passieren uns und schnauben auf dem Stück, das auch gleich vor uns liegt.

Eine notwendige Pause

Die meisten Höhenmeter haben wir schon hinter uns. Wie schlimm kann es also schon auf dem nächsten Teilstück werden? Wir versuchen motiviert auf den ersten Metern im Slalom vorwärts zu kommen. Schnell wird klar, dass das mit den bepackten Reiserädern nicht nur schwer, sondern unmöglich ist. Wir müssen schieben. Schieben, schieben, es flacht kein Stück ab. Immer wieder muss Till stoppen und die vom Bewegen der Last (Rad und Hänger und Taschen und Baby) schmerzenden Hände ausschütteln und entlasten. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir 50 Höhemeter überwunden haben, und wieder so lange für die nächsten 50. Die Fußpilger überholen uns spielend und sind im Nu aus unserem Sichtfeld hinweggewandert. Ich sehe schwarz, dass wir heute noch oben ankommen.

Mit nassgeschwitztem Alles taucht eine Oase vor uns auf, als schon die schwarzen Wolken angezogen kommen. Eine Herberge zwischen zwei Bauernhöfen, und nicht ganz billige kalte Getränke im Garten vor der Herberge. „Eine Cola, ein Wasser, boah, und ein Eis! Und haben sie noch Zimmer frei?“ Wir nehmen die Getränke, lassen uns hier nieder und stehen an diesem Tag auch nicht mehr auf. Ganze 17 km sind wir heute gekommen, und noch 150 Höhenmeter vorm Pass. Doch dafür bleiben wir trocken und können Kräfte sammeln für den nächsten Tag durchs Gebirge.

Beim kräftigenden Kaffee am Morgen ist das kleine Café der Albergue pralle gefüllt. Für uns gibt es das Heißgetränk hier noch vor dem Start, für viele ist es bereits nach der ersten Aufstiegsetappe. Wir nehmen am Tisch bei zwei älteren Damen Platz – und David bereitet ihnen wohl damit die Freude des Tages. Er schäkert mit ihnen, spielt mit ihren Wanderstöcken und will mit ihren Löffeln klappern. Die Frauen sind entzückt. Dann kommt noch ein Stück Aschkuchen für das Baby – na das ist gut gemeint aber nur was für die Eltern. Uneigennützig werfen sich Till und ich an die beschützende Vertilgungfront. 😅

Über den Wolken

Obwohl der Pass nur 150 m höher liegt als unsere Starthöhe mit Kaffee und Kuchen, wird die Etappe durch steilen Anstieg auf kleinen Straßen und wiederholtes Abwärtsfahren aller Höhenmeter, die man erst kurz zuvor geleistet hat, sehr anstrengend. Viel mehr als gedacht. Nur gut, der Kuchen hat uns eine Portion Extrapower besorgt. Damit schaffen wir es zur Mittagszeit bis zu einem kleinen alleinstehenden Café auf dem Pass mit 1335 m. Ein Kaffee und eine Tortilla warten da, um die Energievorräte bei uns aufzufüllen; eine Mieze und Hühner, um David zu unterhalten.

Wieder ein Pass geschafft…

Die Tiere lassen wir da, doch die Energie werden wir brauchen. Ich nehme an, dass nach dem höchsten Punkt nun nur noch Abfahrt kommt, doch nach einem kurzen steilen Abwärtsstück steigt die Straße erneut um 200 m hoch. Mensch, irgendwann muss man doch über dieses Gebirge mal drüber sein?!? Ich glaube schon nicht mehr daran, doch dann geht es endlich auf einer langen Abfahrt, teils auf Teer, teils auf Wiese, ins Tal. Die Berge des Kantabrischen Gebirges von der galicischen Seite sind wunderschön. Da geraten alle Anstrengungen doch glatt für einen Moment in die Vergessenheit.

… und noch einer! Wenigstens geben die Schilder einem einen Grund zum Verschnaufen

Warum wurde nur entlang des Camino vergessen, Campingplätze einzurichten? Die Nächte werden hier wieder etwas wärmer, doch im Val de Samos sei Campen nirgends möglich, wird uns gesagt. Also bringen wir die Nacht aufs Neue in einer Herberge zu. Am nächsten Tag beeilen wir uns, um Portomarin zu erreichen. Je näher wir Santiago de Compostela und damit dem Ende des Pilgerweges kommen, um so voller wird es. (Viele laufen nur die letzten Kilometer und nicht ab der spanischen Grenze) Es soll in dieser Nacht regnen, somit wollen wir dort am frühen Nachmittag eintreffen und eine Unterkunft suchen. Auch wenn das hohe Gebirge nun hinter uns liegt, bleibt die Route anspruchsvoll. Wir geben alles und fahren gegen 14:00 in Portomarin ein. Hier müssen wir zu unserem Erschrecken feststellen, das wirklich alle Unterkünfte der Stadt voll ausgebucht sind. Alles. Zelten dürfen wir auch hier auf der Wiese hinter der Herberge nicht. 🤷

Wir sind entmutigt und ratlos. Der Unterkunftswahn stellt uns vor eine ganz neue Reiseherausforderung. Wir überlegen ernsthaft, die Pilgerroute zu verlassen und den Weg nach Santiago abzubrechen. 107 km vor dem Pilgerziel. Ich lasse mir vom Navi den direkten Weg nach Porto ausgeben: er führt über Santiago?! Wenn ich das Gerät von der Route abzwinge, erwarten uns noch viel mehr Berge – wenig attraktiv. Es muss also die geplante Route werden und wir müssen durchhalten. Wenn wir uns ranhalten, sind es noch drei Tage. Drei Tage, komm, das halten wir durch. Till bucht nun trotz Schlechtwetterprognose für die folgenden drei Tage alle Unterkünfte durch, wir wollen nicht erneut um einen Platz für die Nacht bangen müssen.

Doch zunächst gilt es, für diese Nacht ein Dach über dem Kopf zu finden. Es wird gemunkelt, dass am Abend eine Notunterkunft geöffnet werden soll. Wir stellen uns daher in die Schlange vor der alten, leeren Albergue an; dort sind wir nicht die einzigen, die warten. Vor uns stehen schon Leute und auch nach uns kommen noch Pilger an. Ein junger Brite in der Warteschlange singt und spielt dazu Ukulele – David ist davon wie paralysiert. Er stellt sich neben ihn, staunt und tanzt dann dazu; es ist herrlich. Und tatsächlich, 17:30 wird die Notunterkunft geöffnet. Wir ergattern dort zwar ein Bett im großen Schlafsaal, aber vor der Nacht in der Massenunterkunft graut es mir.

Alle hoffen auf die Eröffnung der Notunterkunft

Noch beim Zweifeln entdecke ich, dass das Gebäude auch Räume mit wenigeren Betten hat – hm, einen Versuch ist es wert. Ein Mädel, das wir bereits kennen, hilft und übersetzt unsere Anfrage an die Verteiler. Sie schauen wenig begeistert und vertrösten uns auf später – ich mache mir keine Hoffnung. Doch ein Weilchen später kommt einer der Männer auf uns zu und führt uns im oberen Stockwerk in einen Raum mit nur acht Betten, der noch leer ist. Er will erst alle anderen Betten und Räume füllen, bevor er hier weitere Pilger einquartiert. Wie ein Wunder bleiben wir hier allein und haben damit ein Zimmer für uns. In der Notunterkunft – das hätten wir uns noch vor ein paar Stunden in der Schlange nicht zu träumen gewagt!

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