Es erscheint uns schon fast unwirklich, die nun über Monate ersehnten Ersatzteile endlich in den Händen zu halten. Wir haben es tatsächlich mit den defekten Kurbeln nach Kappadokien geschafft. Wir haben tatsächlich das Paket erhalten. Und es sind tatsächlich die richtigen Teile, in richtiger Anzahl – wir hatten uns schon alle möglichen Szenarien ausgemalt, was trotz dem Erhalt des Paketes noch schief gehen kann. Den gesamten Abend sind wir euphorisch und wie ein bisschen beschwipst vor Glück.
Beim Zähneputzen kommt mir die Idee: „Mensch, jetzt könnten wir doch am Besten gleich einen Flug buchen!“ Für uns steht mittlerweile fest, dass wir das Land weder auf dem Seeweg (coronabedingt alle Fähren eingestellt) noch auf dem Landweg (coronabedingt oder konfliktbedingt Grenzen geschlossen) verlassen können. Ein Flug ist für uns gerade die einzige Alternative, um weiter Richtung Afrika zu gelangen. Israel lässt nach wie vor keinen Individualtourismus zu. Unser Ziel ist daher Jordanien, über den Jordan Bike Trail nach Akaba, dann per Fähre nach Ägypten. Till recherchiert als Flugverbindung: Ankara – Amman.
Wie lange brauchen wir bis Ankara? Und für alle Vorbereitungen? Sagen wir Abflug in zwei Wochen. Lange dauert es, einen günstigen Flug inklusive Gepäck und Fahrräder zu finden, doch mit Engelsgeduld macht er eine passende Airline ausfindig. Einziger Nachteil nur: man kann die Räder nicht online mit buchen, das geht nur nachträglich mit der Flug- und Ticketnummer per Telefon. Und nur, solange nicht bereits zu viel Sperrgepäck für eben diesen Flug gebucht ist. Sollen wir das wirklich wagen? Ein Flugticket buchen, ohne sicher zu wissen, ob die Räder mitkönnen? Gut, wir tun es. Wie wir dort anrufen, ohne türkische SIM-Karte überlegen wir uns noch.
Also buchen? Warte mal, nochmal die Einreisebestimmungen für Jordanien checken:
- PCR-Test nicht älter als 72h à in Ankara gibt es Testzentren, das bekommen wir da hin
- Visum? Brauchen wir ein Visum? à Ja, aber es gibt am Flughafen Visum on arrival, brauch man also nicht vorher beantragen (mit dem kleinen verbleibenden Risiko, dass man eben keins bekommt)
- Nachweis einer Krankenversicherung, die auch für Krankenhauskosten verursacht durch Covid-19 aufkommt. à Hm, wir haben eine Auslandskrankenversicherung, die müssen wir anschreiben, ob die dafür aufkommen würde (sind wir uns nicht sicher) und uns eine Bestätigung dafür ausstellen kann
- Gesundheitserklärung à Bestätigung, dass man keine Symptome hat: ausdrucken, ausfüllen, unterschreiben. Das bekommen wir hin
- Covid-App à alles klar, habe ich schnell aufs Handy runtergeladen
Mittlerweile ist es schon fast Mitternacht und ich kann die Augen kaum noch offenhalten. Noch was?
- Gesundheitsantrag mit QR-Code beantragen. Hier muss man die Daten zu seiner Impfung hochladen und diese von der jordanischen Regierung genehmigen lassen.
Puh, wollen wir vielleicht erst die Genehmigung abwarten, bevor wir den Flug buchen? Das kann ja schon zum Hemmnis werden. Zeig mal den Antrag, ein aufwändiges Formular, das auch die genauen Flugdetails abfordert – es zählt also nichts, wir müssen erst den Flug buchen und können anschließend die Genehmigung beantragen. Das ist uns ein bisschen heiß, aber… wir wollen Jordanien! Also: Flug wirklich buchen? Ja. Letzter Schritt auf der Seite des Fluganbieters: wollen Sie wirklich buchen? Ja. Erschöpft, froh und auch ein wenig nervös sinken wir zur letzten Nacht in den Hotelbetten.
Mit den langersehnten Ersatzteilen im Gepäck starten wir also Richtung Ankara. Dort wollen wir sie tauschen, wenn die Räder ohnehin für den Flug demontiert werden, mit einem speziellen Werkzeug, das wir in einem Fahrradladen bestellt haben. Wir machen einen Schlenker über Kayseri und biegen dann nach Norden ab. Es ist etwas kühler, in den folgenden Nächten und an den Morgen gibt es sogar etwas Regen. Einmal läuft nachts Wasser ins Zelt, aber der Fehler beim Aufstellen des selbigen wird uns schnell begreiflich und der Zeltaufbau am nächsten Tag besser ausgeführt. In der Nähe eines Flusses wollen wir nach einer feuchten Nacht bei den ersten Sonnenstrahlen unsere Sachen trocknen. Eine Bushaltestelle bietet uns dafür die passende ‚Halterung‘. An allen Stangen werden Zelt, Isomatten, Unterlage aufgehängt. Die Hunde des dahinter liegenden Grundstückes sind durch unsere Aktion sehr verunsichert und bellen und bellen. Das scheint den Besitzer des Hauses geweckt zu haben und er kommt (noch im Schlafanzug) mal nachsehen, was denn da los ist. Er bestaunt unsere Machenschaften, in silent language erklären wir, dass die Sachen vom Regen nass sind und wir sie hier trocknen. Er versteht und beschaut alles. Immer wieder lädt er uns dabei zum Çay-trinken ein. Wir lehnen ab, wollen wir ihm keine Umstände machen. Immer wieder insistiert er „Çay, Çay“. Da wir ohnehin noch ein paar Minuten auf das Trockenwerden warten müssen, nehmen wir also an und folgen ihm auf seine Veranda. Stolz ruft er seine Frau heraus, die auch gleich die Tochter ans Teekochen schickt. Selbst holt sie im Garten Tomaten und Paprika, heizt hinter dem Haus einen Tandoor-Ofen an und bäckt dünnes türkisches Jufka-Brot, dazu werden Oliven, Käse und Halva vor uns aufgetischt. Bei den Vorbereitungen ruft der Sultan immer wieder nach seinen Nachbarn.
Wir wissen nicht, wie er wirklich heißt, doch er scheint sich in der Rolle des Gastgebers und des Hausherren, der seinen immer wieder um die Ecke guckenden und giggelnden Töchtern mal zeigt, wie man das mit so einer Einladung Fremden gegenüber macht, sichtlich wohl zu fühlen. Auch ohne Worte verstehen wir uns, die Nachbar kommen ebenfalls zur Begrüßung. Als sie bemerken, dass wir zunächst genau beobachten, wie sie die Dinge essen (mit den Händen, Dip nur mit Brot aufgenommen, Joghurt alle aus einer Schüssel), machen sie uns ganz bewusst alles vor. Erst wird Käse in Jufka eingewickelt und in den Mund geschoben. Dann wird es mit Tomate vorgeführt. Hier das Halva müsst ihr auch noch probieren. Ich lehne ab, sie denken anscheinend, ich traue mich nicht, wickeln deshalb einen guten Happen für mich ein und reichen ihn mir rüber. Es scheint ihnen wirklich eine große Freude, uns zu beherbergen und zu versorgen. Dann beteuern wir, dass wir weiter müssen (unsere Sachen sind lange trocken, hatten wir doch auch nur mit 5 Minuten für Tee gerechnet) und die Familie packt uns noch eine große Tüte von allem als Lunchpaket.
Mit trockenem Zelt, gestärkt und mit Proviant im Gepäck geht es für uns den nächsten Berg hinauf. Als sich am Nachmittag die Gelegenheit für WiFi ergibt, finden wir in unseren E-Mails eine Nachricht der Jordanischen Gesundheitsbehörde. Unser Gesundheitsantrag wurde abgelehnt. Was? Wir sind geschockt. Als Begründung wird genannt, dass in dem Impfdokument Name der Person und Impfung nicht auf einer Seite stehen. Ja, das ist eben in dem gelben, europäischen Impfpass so, dass der zum Aufklappen ist und nicht alle Informationen auf einer Seite zu finden sind. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Till bastelt noch einmal alle Seiten inklusive QR-Code, den uns ein Freund zu Hause aus seiner Apotheke beantragt hat, auf eine Seite eines Word-Dokumentes. Das Laden wir erneut hoch. Absenden. Puh. Warte mal, nach dem Senden stellen wir fest, dass die Auto-ausfüll-Funktion in Tills Antragsformular als Ausreiseland Deutschland eingetragen hat, anstelle der Türkei. Ah, nein. Also noch ein Antragsformular ausfüllen und absenden. Leider gibt es kein Kommentarfeld, in dem man einen Hinweis auf Korrektur geben kann. Nun heißt es Daumen drücken, und dass das Durcheinander nicht gleich der nächste Ablehngrund ist.
Die letzten Kilometer nach Ankara sind furchtbar anstrengend. Wir fahren auf einer großen Straße, es gilt zwischen all den Lastern noch einen steilen Anstieg um 500 Höhenämter zu überwinden. Ein PKW hupt uns auf halber Höhe an. Ich denke gestresst: „Kannst du nicht bitte einfach vor oder hinter uns vorbeifahren?!?“ Als ich mich umdrehe, steht Till neben dem Fahrerfenster und bekommt zwei Flaschen kaltes Wasser heraus gereicht. Mei, tut mir mein Gedankengang leid!
Zum Stadtzentrum hin wird der Verkehr dichter, die rücksichtslosen Busse mehren sich. Glücklicherweise geht es zunächst viel bergab, so dass wir mit dem Tempo der Autos gut mithalten können und es uns so das Vorankommen vereinfacht. Doch nach jeder Talfahrt kommt auch wieder ein Anstieg – lautet doch das Sprichwort, nicht? Und Ankara hat viele davon. Wir sind sehr froh, als wir endlich in dem ruhigen Wohngebiet unserer Warmshowers-Hosts ankommen. Hier stellen wir fest, dass wir schlecht vorbereitet sind. Wir haben keine genaue Adresse und nicht mal den Nachnamen der Familie. Suchend schauen wir umher. Sofort spricht uns ein junges Pärchen an, sie sind auch Radler, stellen ohne Verzug ihr Auto ab und sind bei der Suche behilflich. So finden wir auch schnell die Adresse. Zunächst verbringen wir ein paar Tage bei Büşra, Oğuz und der dreijährigen Tochter Idil. Die drei sind herzallerliebst und die Kleine spielt mit uns und erzählt uns ihre Geschichten ohne Hemmnisse. Dass ich in einer anderen Sprache antworte stört nicht.
Für die letzten Tage ziehen wir noch einmal weiter zu Ekin und Hena. Ekin hat bereits im Vorfeld für uns ein paar Teile im Fahrradladen geordert und Öl für die Rohloff-gangschaltung aus Istanbul bestellt. Ebenso hat er Fahrradkartons für uns reserviert, die Till über die Stadtautobahn auf dem Gepäckträger zum Haus der beiden chauffiert. Das allein wäre uns bereits eine riesige Hilfe. Doch Ekin und seine Gastfreundschaft erweisen sich weiter als unbezahlbar. Er fährt mit uns zum PCR-Testzentrum des nahegelegenen städtischen Klinikums, ohne ihn als Übersetzer wäre das für uns schier ein unmöglicher Akt gewesen. Danach fährt er uns weiter zu einer Fahrradwerkstatt, um zwei widerspenstige Schrauben an den Kurbeln der Räder zu lösen. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen, weil er mit unseren Wehwehchen einen halben Tag von der Arbeit abgehalten wird. Hena organisiert einen Transporter für die Fahrt zum Flughafen, da ein Taxi nicht beide Boxen verladen bekommt. Danke an euch beide, eure selbstlose Hilfe ist mit Gold nicht aufzuwiegen!! Nun können wir uns um die letzten Vorbereitungen für den Flug und die Weiterreise kümmern. Wir verlassen die uns bis dahin bekannte Zivilisation und wollen alles erledigen, von dem wir keine Ahnung haben, wie einfach das später zu bekommen wird. Noch einmal Friseur, neue Zahnbürsten und Zahnseide, Sonnencreme-Vorrat aufstocken, noch einmal bei der Apotheke eindecken.
Die Abende mit den beiden und dem für das Land ungewöhnlichen Angebot an Wein, Bier und Schnaps genießen wir sehr. Dazu fehlt gutes Essen keinesfalls! Beschwingt wandern wir ins Obergeschoss hinauf, wo sich unser Schlafzimmer befindet.
Am letzten Abend dann im Badezimmer mache ich eine unerwartete Entdeckung: „Oh Mist! Oh je, das kann doch nicht stimmen. Irgendwas läuft hier nicht richtig.“ Ich sitze. Überlege. Und sitze. Und denke nach. Das medizinisch vorgebildete Hirn rasselt. Als ich mich zu einer schlaflosen Nacht begebe, schwirren mir Tumoren, exokrine Störungen und verschiedene andere Erkrankungen durch den Kopf.
Also solchen Kriech-Wein haben Silvia und ich auf unserem langen Urlaub am Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts auch gesehen. In welchem Land das war? Natürlich in Kriechenland!
😂😂😂
Hallo ihr Beide, bisher bin ich kommentarlos mit euch mitgereist. Danke, dass ihr uns auch auf diesem Reiseabenteuer wieder teilhaben lasst😊.
Der Wein wird in trockenen Gebieten so angebaut, um den Morgentau maximal zu nutzen. Gesehen hab ich das in Lanzarote.
Ganz liebe Grüße aus Leipzig 🤗
Liebe Ramona,
das ist ja interessant, dann hat es wirklich einen Hintergrund! Und wir Dussel haben geglaubt, die Erziehung wird eben dort nicht so streng gehandhabt 😅 Danke für’s Teilen!
Viele Grüße, Janine