Vor zwei defekten Kurbelarmen auf dem einsamen Ciro-Trail sitzend, starrt Till auf die defekte Befestigung, er sagt nichts. Mal ein Kopfschütteln, dann ein tiefer Seufzer, wenn wieder die Schraube beim Anziehen überdreht. Er demontiert Befestigungsringe, wischt das verbliebene wenige Gewinde ganz sauber, um jeden zehntel Millimeter zur Befestigung nutzen zu können. Ihm gelingt es, die Kurbeln so anzubringen, dass sie nicht gleich weg knicken, wenn man den Fuß drauf stellt und meint dann zu mir: „So, wir müssen wahrscheinlich von den 34 km bis nach Trebinje viel schieben. Dort überlegen wir weiter, was wir machen können. Damit wir das morgen bis dahin schaffen, lass uns versuchen, heute noch ein paar Kilometer hinter uns zu bekommen. Dabei aber nur mit rechts treten und versuchen, links nicht zu belasten.“
Es ist schon spät, wir konzentrieren uns darauf, nur mit Belastung durch das rechte Bein vorwärts zu kommen. Zum Glück ist es ganz flach und wir haben sogar noch ein bisschen Rückenwind. Der linke Fuß versucht nur ganz leicht auf dem Pedal zu stehen. So kommen wir noch 11 km, bevor wir bei einem verlassenen Bahnhäuschen vorbei kommen und prüfen, ob wir dahinter unser Nachtlager aufbauen können. Hinter dem ehemaligen Bahnhof sind viele verfallene Häuser, einst scheint es ein wichtiger Umschlagpunkt für Güter gewesen zu sein, heute wirkt es wie eine verlassene Geisterstadt. Ein paar Schafe haben direkt hinter dem Bahnhaus eine schöne Fläche zeltgerecht kurzgefressen. Wir lassen uns also nieder und bereiten uns auf die Nacht vor.
Als wir es uns schon gemütlich machen, scheint von der verlassenen Seite des Gebäudes her, also nicht über den geteerten Ciro-Trail sondern den unbefestigten Weg, ein Auto näher zu kommen, und in die Auffahrt zum Bahnhaus zu fahren. Kurz vor uns bleibt es stehen, uns trennen nur ein paar Büsche. Wir erkennen zwei Männer und einen Audi, sie sehen uns vom Auto aus nicht. Was machen die in so einer verlassenen Gegend? Wir harren zunächst still, warten mal ab, was passiert. Die Männer steigen aus, wir hören sie neben dem Auto stehend reden, dann steigen sie wieder ein und fahren. Ich habe Fragezeichen im Gesicht. „Vielleicht haben sie Müll abgeladen?“ Später hören wir noch einen Schäfer mit seinen Schafen ankommen und diese eingattern. So verlassen, wie ich dachte, ist es hier wohl doch nicht.
Im Zelt überlegen wir unsere Optionen: auch wenn wir schieben müssen, ist es realistisch, die 23 km bis Trebinje am nächsten Tag zu schaffen. Dort gibt es keinen Fahrradladen, geschweige denn eine Möglichkeit, an ein passendes Ersatzteil zu kommen. Nirgends hier im Balkan. An ein Ersatzteil wäre erst wieder in der EU, also in Bulgarien zu denken. Es bliebe also nur eine ‚kreative Lösung‘ als Hoffnung, dass uns vielleicht ein Automechaniker eine Schraube an die Kurbel, die wir dafür ernsthaft demolieren müssen, schweißt oder ähnliches. Dann sinke ich in den Schlaf, nicht einmal Hundegebell gibt es in dieser Nacht, also doch sehr verlassen.
Am darauffolgenden Morgen scheint uns die Sonne, über Nacht konnte das Loctite schön ‚einwirken‘ und wieder starten wir ganz vorsichtig die Fahrt nach Trebinje: niedriger Gang rein und nur rechts Kraft geben, linken Fuß so wenig wie möglich aufsetzen. Am Tag davor hätte ich das niemals geglaubt, aber wir kommen voran. Kilometer um Kilometer feiere ich und zähle innerlich die Zeit runter, die noch nötig wäre, um die verbleibenden Kilometer zu schieben, falls nötig. Dann verkündet das Ortseingangsschild das Etappenende.
Es ist 10:00 und wir fahren ein großes Kaufhaus an, um Lebensmittel zu besorgen und das WiFi zu nutzen. Wir sind voller positiver Energie darüber, da wir es so gut hierher geschafft haben. Das Frühstück inspiriert uns zu einer Testfahrt über den Parkplatz, mit immer mehr Linkslast, in immer schwereren Gängen, bis Volllast auf die Pedale im höchsten Gang. Es ist unglaublich und grenzt an ein Wunder, die Kurbel hält. Zunächst. So beschließen wir, hier keine Unterkunft zu suchen, die Kurbel nun erst einmal nicht anzufassen, solange sie hält, nur eine eilige Hilfegesuch-Email an Rotor (Hersteller der Kurbel) zu schreiben. Wir hoffen darauf, dass uns die Firma zwei Kurbeln nach Bulgarien (=EU) schickt. In etwas zwei Wochen könnten wir bei Hosts sein, die das Paket für uns annehmen könnten. Wir wollen es also in dem Zustand weiter bis Bulgarien versuchen. Leichtsinnig nach einer Runde übern Parkplatz? Vielleicht. Kleinstädte ohne echte Option finden sich auch später noch – nur trennt uns von der nächsten ein 700-m-Aufstieg ins Gebirge und eine Landesgrenze. Noch wissen wir nicht: Rotor meldet sich an diesem Tag nicht mehr. Auch am folgenden nicht. Und am folgenden nicht. Und am folgenden nicht…
Nun, wir sind euphorisch, drehen noch eine Runde durch Trebinjes Altstadt ‚Stari Grad‘ und beginnen dann mit den ersten Höhenmetern. Es ist heiß, so unsagbar heiß, in der sengenden Mittagssonne. Schon nach wenigen Minuten habe ich brennenden Durst. Bei der nächsten Möglichkeit mit Schatten will ich halten und etwas trinken. Doch es kommt kein Schatten, nirgendwo, nur Aufstieg durch graues Gestein.
So stoppen wir also in der Sonne, immer wieder, bis wir das Dorf Grab nach 400 Höhenmetern Aufstieg erreichen. Die wenigen Häuser sind die letzte Siedlung, bevor das Gebirge die natürliche Grenze zu Montenegro bildet. Wir halten hier im Schatten eines Baumes. Es gibt kein Geschäft (oder zumindest finden wir keines), aber ein kleines Restaurant, bei dem möchte ich die letzten bosnischen Münzen ausgeben (etwa 2 €), diese in ein kaltes Getränk umsetzen. Um einfacher erklären zu können, was ich möchte, nehme ich eine leere Limoflasche mit und die letzten Münzen in die Hand. „Für dieses Geld sowas wie das da bitte“. Mein Plan scheint totsicher. Der Kellner lächelt mich an, er versteht. Der Kellner versteht nicht. Nicht richtig. Er nimmt meine leere Flasche und füllt sie mit Wasser auf. Lehnt mein Geld ab, dafür möchte er nichts haben. „Hat nicht ganz funktioniert“ kehre ich zu Till zurück. „aber ich habe Wasser“ 🙂 Das Geld spenden wir später in Montenegro einem Straßenmusiker, ob der mal nach Bosnien reißt? Nun hat er einen Anreiz.
Die Straße steigt noch weitere 300 Höhenmeter in die Berge. Schroffe, kantige, graue Gesteinsformationen mit dunklen Wäldern empfangen uns schon vor dem Grenzübertritt im Land der schwarzen Berge. Als wir endlich oben sind, haben wir noch etwa vier Autos vor uns Zeit, wieder zu Atem zu kommen, um dem Grenzer nicht zu sehr entgegen zu japsen. Wir haben Pässe und Impfpässe bereit, doch der Beamte gibt uns die gelben Pässe gleich zurück, die benötigt er nicht. Nach einem kurzen Routinecheck sagt er ‚Welcome to Montenegro’.
Wir düsen nach erfolgreicher Einreise 500 Höhenmeter hinunter. „Wir müssen aufpassen, dass wir an der kleinen Abzweigung zum Zeltplatz nicht vorbei sausen“ sage ich zu Till. Wir haben uns trotz des frühen Nachmittags für den Campingplatz entschieden, da sich Ausländer innerhalb von 24 h nach Grenzübertritt in einer Unterkunft registrieren lassen müssen. Dieser Zeltplatz ist gut bewertet und günstig. Ich habe bereits auf meiner Karte gesehen, dass nach Verlassen der Hauptstraße 2,6 km Wanderweg dort hinführen. Und genau so sieht der mit Gras bewachsene Weg auch aus, als wir dort abfahren, sogar noch mehr nach Bergsteigen als nach Wandern. „Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?“ „Ja, maps.me sagt hier geht’s lang. Es ist doch noch zeitig und nicht so weit, dann schieben wir eben bis zum Zeltplatz, ist doch schön.“ antworte ich Till. Die Hauptstraße hinunter und von unten wieder 200 Höhenmeter nach oben zu fahren ist für mich keine Option.
Wir schieben also los, von den ersten Steinen auf dem Weg zeige ich mich unbeeindruckt, auch von dem ersten steinigen Abstieg. Schön ist es nicht, aber das muss ich ja nicht gleich laut aussprechen. Es wird immer holpriger und bereits zu Fuß ohne Fahrrad wäre es eine anspruchsvolle Wanderstrecke. Doch mit bepackten Rädern ist es eine Herausforderung. Ich kann auf dem schmalen Trail kaum neben dem Fahrrad treten und es scheint eher noch steiler und felsiger zu werden. „Das geht nicht, wir können die Räder nicht 2 km tragen“. Till insistiert, dass wir umdrehen müssen. Aber der Weg war abwärts bis hierher schon beschwerlich, an den Rückweg aufwärts will ich gar nicht denken. Ich schaue auf die Karte. Von 2,6 km haben 600 m hinter uns gebracht. Von 240 Höhenmetern ganze 40 m. Ich muss ihm recht geben, der Weg ist für uns unmöglich. Das wird nichts. Murrend drehen wir und steinklettern die mühsamen 600 Meter des Weges wieder zurück zur Hauptstraße.
Die geteerte Straße ist wie eine Erlösung, sie führt hinunter in den Küstenort Herzeg Novi. In einem Café fragen wir, ob wir das Wifi nutzen dürfen. Der Kellner gibt das Passwort bereitwillig in mein Telefon ein: „enjoy!“. So buchen wir in der touristischen Kleinstadt eine Unterkunft und fahren die letzten Kilometer entlang der Küstenstraße ans Ende der Stadt.
Montenegros Teil am Dinarischen Hochgebirge mit tief zerteilten Canyons, und der tiefsten Schlucht Europas, hat uns dazu animiert, das Land entlang der Adria zu durchqueren und dem sicherlich beeindruckenden, unwegsamen Bergland die zumeist flache, wenn auch vielbefahrene Küstenstraße vorzuziehen. Uns wird hier klar, dass wir uns damit für zwei Tage Touristen, Schwimmringtiere und Hotelkomplexe entschieden haben. Bei einem Abendspaziergang entlang der Strandpromenade müssen wir zugeben, dass der Blick auf die kleine vorgelagerte Insel im Meer wunderschön ist. Wir lassen uns also für zwei Tage auf ‚klassische‘ Urlaubsstimmung ein und nehmen uns vor, den Ausblick auf die See zu genießen.
Schon in der ersten Nacht sehne ich unser Zelt herbei. Es ist heiß, zu heiß um mit geschlossener Tür zu schlafen, sogar zu heiß um sich zuzudecken. Doch bei geöffneter Tür kommen die Mücken rein, wir sind ein Festschmaus ohne Decke. Es gibt keine Möglichkeit das Moskitonetz aufzuhängen. Ich sprühe mich nach einer Stunde komplett mit DEET ein, Till will nicht, bekommt von mir aber trotzdem eine Ladung ab. Am folgenden Tag juckt es uns beide an Armen und Füßen.
Den nächsten Tag starten wir früh, um der Hitze etwas zu entkommen. Die ersten Kilometer machen wir entlang der noch wenig belaufenen Strandpromenade. Die Luft ist angenehm und das Meer schön anzusehen. Dann müssen wir auf die Hauptverkehrsstraße auffahren. Sie ist zwar immer wieder als ‚scenic route‘ auf Schildern gekennzeichnet, das wird mir aber nicht ganz begreiflich, man sieht das Meer nur sehr selten, Autos umso mehr. Die PKWs halten einen, naja nennen wir es ausreichenden Abstand, nur die Busse und LWKs denken, nach einem Hupen sind die Fronten doch geklärt und sie dürfen alles. Es ist schon wie in Asien. Eine kleine Abkürzung der Hauptstraße mit der Fähre über die Bucht von Kotor (spart uns 15 km Straße) kommt uns da sehr gelegen.
Zur Mittagsstunde haben wir den letzten Anstieg des Tages hinter uns und rollen in die Bucht von Budva ein. Die Stadt ist so vom Verkehr gebeutelt, dass dieser hier zum Stillstand kommt und wir auf dem Gehsteig an den stehenden Autos vorbei schieben. Ich schiebe im Eilschritt voran, eine Bank als Ziel. Hier will ich noch einen Schein Bosnische Mark in Euro tauschen (offizielle Währung in Montenegro, wenn auch nicht offiziell Teil der Währungsunion, ist der Euro). Doch ich will mich beeilen, die meisten Geschäfte und Behörden haben eine lange Mittagspause, wenn sie überhaupt am Nachmittag nochmal öffnen. Doch wir haben Erfolg und wenig später wieder Euros in der Tasche.
Wir besuchen auch hier Stari Grad und einen Food Market, den ich beim Schieben durch ein Tor in einer Halle erspäht habe. Ich erhoffe mir ein authentisches Einkaufserlebnis, doch alles ist nur für die Touris inszeniert, Einheimische kaufen hier nicht. So machen wir uns auf den Weg in ein kleines Ferienzimmer und beziehen dies schon 13:45. Für 13 € hat es eine kleine Kücheneinheit, Bad, Bett und Couch, WiFi und eine Mietze vor der Tür.
Unser Spaziergang entlang der Promenade am Abend gleicht dem am Vortag. Man könnte die Städte 1:1 gegeneinander (und wahrscheinlich mit jedem anderen Touri-Badeort) austauschen und würde es nicht merken. Blick aufs Meer und zwei Mal Hotel war schön, doch wir sind auch froh, dass wir am darauffolgenden Tag landeinwärts steuern, die Küste (und damit auch Montenegro) verlassen. Mach’s gut Adriatisches Meer. Nächstes Meer: Marmarameer.
Traumhafte Bilder!!! Und ich hab die 600m zurück mit euch gelitten, wie schade, dass das nicht geklappt hat mit dem Campingplatz…und die Spannung bleibt, ob die kurbel durchhält…wenn auch zeitverzögert, drücke ich dafür ganz fest die Daumen!!!! GLG
Liebe Martina, vielen Dank für’s Daumen halten. Es war für uns auch jeden Tag aufs neue spannend, ob die Kurbel hält. Ein Stück Weg zurück ist zwar unschön, aber am Ende haben wir doch eine gute Unterkünfte gefunden. Ich glaube aber, dass wir dort mindestens einen der Gegenstände mit ‚H‘ liegen lassen haben.
Fühl dich gedrückt! Janine und Till