Die ersten Kilometer im Schweizer Tessin geht es tendenziell leicht bergab, die Sonne scheint, es hat 18°C und wir haben Rückenwind. Kann das Radfahren schöner sein? Trotz perfekter Bedingungen fühlen sich die Beine nach der Alpenüberquerung müde an, und so beschließen wir, für den kommenden Tag eine Unterkunft zu buchen und dort einen Tag zu pausieren. Auf der Karte gibt es hinter der italienischen Grenze eine fast erschwingliche Unterkunft (alles ist günstiger als in der Schweiz) und so buchen wir kurzentschlossen, trotz der anstehenden 100 km Fahrt mit 1100 Höhenmetern, die für den kommenden Tag vor uns liegen.
Zu Beginn des Tages geht es knapp 400 Höhenmeter nach oben, über die Hänge, die das grüne Tal begrenzen, in dem wir seit gestern gefahren sind. Jeder Meter strengt uns an und wir müssen uns erstmal an den Resten des Vorabends stärken. Gegen 13:00 erreichen wir die italienische Grenze – wir liegen ganz gut in der Zeit, fahren also frohen Mutes den Grenzern entgegen und wollen dort mit unserem Impfausweis trumpfen. Doch der Grenzer zeigt sich unbeeindruckt. Er erklärt uns in seinem schlechten Englisch, dass wir einen negativen Corona Test benötigen, für Impfstatus interessiert er sich nicht. Gut, und wo können wir den Test machen? Wir gehen von den heimischen Verhältnissen aus: Testzentrum an jeder Grenze. Doch weit gefehlt. Wir sollen in die Schweiz zurück radeln und einen Test in einer Apotheke machen lassen.
Ein bisschen mürrisch drehen wir also die Esel wieder in die entgegengesetzte Richtung, wir waren wirklich schlecht informiert (mit schlecht meine ich: nicht) und als Resultat fahren wir nun erneut an den Schweizer Beamten vorbei und zurück in die letzte Stadt vor der Grenze. Auf meiner Karte ist da gar keine Apotheke eingezeichnet, doch auf Tills Karte gibt es eine. Diese Apotheke hat Mittagspause. Hm. Die Straße runter sehe ich ein weiteres Apothekenschild. Also eilen wir dort hin. Auch diese Apotheke hat Mittagspause. Eine Mitarbeiterin, die uns durch die Scheibe schauen sieht, kommt aber an die Tür. Wir sagen, dass wir einen Corona Test machen wollen. Sie winkt gleich ab, sie hat nichts mehr frei. Also zurück zur ersten Apotheke. Noch eine halbe Stunde Mittagspause. Wir warten.
Während wir warten, kommt ein dicker Benz die schmale Straße angefahren, gestikuliert, wir sollen die Fahrräder wegschieben. Wir denken, er hat Angst, sonst nicht hindurch zu kommen und schieben sie an eine andere Mauer. Nein, wir sollen weg, damit er direkt vorm Eingang seinen Wagen abstellen kann. Eine mit Schmuck über und über behängte Dame steigt aus, erklärt ihrem Mann sehr affektiert, dass noch 20 Minuten geschlossen ist und stellt sich direkt vor uns an die Tür. „Ähm, Entschuldigung, wir warten auch.“ Sie wackelt derweilen zum Zeitvertreib in den Souvenirshop gegenüber. Dann endlich öffnet sich die Tür der Apotheke, schnell hinein und unser Anliegen vorgebracht. Auch diese Dame winkt sofort ab, sie seien ausgebucht und hätten keinerlei Kapazitäten frei.
Ernüchtert treten wir nach draußen. Was machen wir denn nun? Wir müssen eine weitere Stadt zurück radeln, von der Grenze wegfahren, was bleibt uns anderes übrig. Zu den verbleibenden 60 km hinter der Grenze zur Unterkunft gesellen sich nun all die Kilometer, die wir in die Gegenrichtung fahren und dann ja wieder hin müssten. Ich sehe unsere Chancen schwinden, dass wir das heute noch schaffen.
In der nächsten Stadt finden wir eine Apotheke, ein sehr sympathischer Apotheker begrüßt uns. Wir schildern unser Anliegen, er verneint, sie machen dort keine Tests. Weiter bezweifelt er, dass irgendwo in der Nähe noch Termine frei sind, vielleicht in Lugano, aber auch da würde er raten, vorher einen Termin zu vereinbaren. Er gibt uns noch eine Webseite, wo wir nachsehen können, wer alles Tests macht. Da das Internet für uns in der Schweiz aber ein kleines Vermögen verschlingt (nach den verlorenen 30 € bin ich vorsichtig!) ist das für uns nicht wirklich hilfreich. Wir danken ihm trotzdem und stehen betröppelt vor dem Laden. Die Hoffnung sinkt weiter.
„Los zur nächsten Apotheke!“ meint Till bestimmt. Wir radeln weiter weg von der Grenze und versuchen es in einer 4. Apotheke also erneut. Ich bringe unser Begehren vor, die Dame schüttelt den Kopf, nein, sie sind ausgebucht. Sie zeigt mir ihr Terminbüchlein: mehr als 2 Wochen keine Termine frei. Sie verweist uns ebenfalls an die nächste Großstadt, Lugano, etwa weitere 40 km zurück. Ich erkläre ihr, dass wir Radreisende sind und dies eine Tagesetappe für uns darstellt, dann sprudelt es weiter aus mir, dass wir eine Unterkunft gebucht haben und heute Italien erreichen müssen, sonst ist doch das Geld weg.
Geduldig hört sie meiner Ohnmachtsworteflut zu und nach einer Pause sagt sie: ok, ich mache euch einen Test. Ich traue erst meinen Ohren nicht, wage aber nicht noch einmal nachzufragen. Mit dem Test können wir aber nicht wieder zurück in die Schweiz (wir hören das später wieder: ein Test ist nur für einen Grenzübertritt gültig, auch wenn dazwischen nur ein Tankstopp mit wenigen Minuten im Nachbarland liegt, ist er dann nicht mehr gültig. Unverständlich). Nein, kein Problem, wir wollen weiter und nicht zurück. Unsere Herzen schlagen vor Freude, setzen kurz aus, als sie den stolzen Preis von 102 € aufruft, kurz schlucken, aber die Freude überwiegt doch am Ende, dass es klappt. Sofern er ein negatives Ergebnis zeigt.
Stäbchen in die Nase, Tränen trocknen, 10 Minuten warten und dann halten wir das Zertifikat mit der Negativbescheinigung in der Hand. Alle Kilometer wieder zurück zur Grenze, dort stoppen wir beim gleichen italienischen Grenzbeamten. Ich glaube, er hat nicht damit gerechnet, uns heute wieder zu sehen. Schon beim Bremsen winke ich ihm mit den Zetteln zu: „Testo negativo!“ Ich habe nie Italienisch gelernt, aber er interpretiert neue Worte mit einem Lächeln, wirft einen flüchtigen Blick auf das Papier und winkt uns mit ‚Save travels‘ weiter.
Schnell schauen wir, dass wir etwas Land gewinnen. Nicht so einfach, denn erneut geht es bergauf. Der angekündigte Regen für den Abend macht langsam ernst: die Wolken am Himmel werden dichter und dunkler. Für uns geht es mit der Abfahrt durch einen Wald, erst ganz angenehm, aber dann immer holpriger, bis es nur noch ein Pfad ist und schließlich einem ausgewaschenen Flussbett gleicht. Wir beschließen, der Route nicht weiter zu folgen und stattdessen einen Weg einzuschlagen, der ins nächste Dorf führt. In den vielen kleinen und engen Gassen spielt das GPS total verrückt und wir drehen ein paar Runden, bis wir wieder hinaus und einen Weg in die richtige Richtung gefunden haben.
Durch weitere Wälder gelangen wir an den Lago di Varese. Es ist bereits 18:00 und wir haben unsere Ankunftszeit schon zweimal verschoben (zum Glück ist Datenroaming in Italien wieder günstig). Kurz halten wir aber trotzdem, um einen Blick über den See gleiten zu lassen, Hänge mit terracottafarbenen Häusern auf der anderen Seite, und dunkle Wolken über den grauen Hängen links von uns. Ohne lange Ausschweife treten wir also die letzten 10 Kilometer an. Wir sind froh und erschöpft, als wir die Unterkunft endlich erreichen: das Kinderzimmer im Haus einer Familie wird hier vermietet: mit Schulaufgaben auf dem Tisch, Boyband-Postern an der Wand, und einer Tür, der die Klinke immer abfällt – wir sind einfach nur froh, hier zu sein. Wollen nur noch duschen und etwas Brot essen (vor lauter Aufregung haben wir das Mittagessen ganz verpasst). Dann fallen wir ins Bett, der Regen setzt ein. Ich habe fest vor, morgen nicht aufzustehen.