Die Fähre legt in Çanakkale gegen Mittag an und die Räder rollen auf asiatischen Boden. Der Verkehr ist laut, verrückt – typisch asiatisch eben: zu Fuß und zu Rad muss man die Augen überall haben, um nicht umgefahren zu werden, dabei sind die Busse am rücksichtslosesten. Erstmal einen Çay trinken! 😉 Dann ziehen wir zu unserer AirBnB-Unterkunft bei Tuti weiter. Mit ihr erwartet uns hier ein richtig authentischer Einblick in einen türkischen Haushalt: die Einrichtung ist schon etwas abgewohnt, Schimmel im Bad, die Decke beim Streichen der Seitenwände nicht abgeklebt und punktuell mit einem dunkleren Ton ausgebessert. Es ist sauber, und es ist schön. Und Tuti hält eine Tasse Tee und Linsenbällchen (Merçimek köfte) für uns bereit. Dabei können wir sie Dinge fragen, die wir länger hätten recherchieren müssen: wo ist die nächste Poststation für Päckchen zum Beispiel. So schaffen wir es heute endlich, unsere Winterbekleidung zurück nach Deutschland zu schicken und damit unser Gepäck zu erleichtern. Mit 15 € ist es auch nicht teurer als von Bulgarien aus (letzte EU-Station, aber da haben wir es irgendwie nicht auf die Reihe bekommen). Nun dauert es wahrscheinlich viele Wochen, bis das Paket bei Mutti ankommt, macht aber nichts, schließlich wollen wir erst in zwei Jahren wieder Gebrauch davon machen – und bis dahin sollte es sogar die türkische Post schaffen.
Für das Abendessen empfiehlt uns Tuti eine Adresse mit einer lokalen Spezialität: Sardalye ist gebackener Fisch, serviert mit Salat und Zitrone im türkischen Brot. Nach einem Nachmittag im kühleren Zimmer machen wir uns auf Erkundungstour durch die Stadt und die Suche nach dem Sardalye-Lokal. Es dauert zwar eine Weile, bis wir die Adresse gefunden haben, doch das Lokal scheint das beliebteste der Stadt zu sein. Um die Theke, über die die Fische verkauft werden, drängen sich die Menschen, rufen und strecken die Arme nach vorn, um der nächste zu sein (so stelle ich mir das Leben an der Börse vor). Entlang des Weges sehen wir noch andere Stände, die Sardalye anbieten, an denen herrscht allerdings Flaute – es muss also was dran sein an der Empfehlung. So stürzen auch wir uns ins Getümmel, wir haben den Ausländer-Bonus: werden nach vorne gelassen und bevorzugt bedient (ja, das ist in der Türkei anders als in Deutschland!) und so dauert es nicht lange, bis wir unser Sardalye-Ekmek in der Hand halten.
Dann streifen wir weiter durch die Stadt des Dardanellenkrieges. Hinter jedem Zaun, auf allen Straßen gibt es Katzen – und es ist gerade Kätzchen-Zeit. Die Region ist bekannt für ihre Liebe zu den Tieren, das zeigt sich durch Futter und Wasser in allen Ecken. Natürlich kommen wir an dem trojanischen Pferd vorbei; Troja befindet sich zwar noch 30 km entfernt, aber hier steht die Requisite, die für den gleichnamigen Film genutzt wurde. Es warten Schuhputzer am Straßenrand und Handwerker in kleinen Laden auf Kundschaft, wie zum Beispiel Männer an Nähmaschinen in winzigen Nähstuben. Wir wollen die Gelegenheit nutzen, Tills abgerissenen Ärmling (Zum Schutz gegen die Sonne) nähen zu lassen; auch ohne gemeinsame Sprache ist doch mit dem Corpus dilicti in der Hand schnell ersichtlich, welchen Auftrag wir für ihn haben. Sofort beginnt er mit der Arbeit. Für ihn ein schneller Job und für uns eine günstige Reparatur (1 €), alle sind happy.
Entlang der Promenade finden sich Restaurants, Fischer, fliegende Händler, die frische (rohe!) Muscheln zum Verzehr anbieten. Ebenso wie beim Nähen ist der Preis verlockend und die Gegend berühmt für ihre Muscheln… aber… nein, das lassen wir dann mal lieber, bevor uns die nächste Lebensmittelvergiftung gleich wieder ins Haus steht. Doch auch ohne Muscheln spricht uns der Charme der Stadt mit Blick aufs Meer sehr an, und so entscheiden wir noch einen Tag zu bleiben.
In dieser Nacht halten uns zwar keine GIT-Beschwerden wach, aber Hitze und Mücken. Wir erlegen bestimmt fünf Stück, und immer wieder hören wir das Surren. Wir sprühen uns mit Repellent ein, doch die Insekten finden jede noch so kleine vergessene Stelle: kleiner Zehe, Stirn oder Ellbogen. Nach wenig Schlaf packen wir am Morgen etwas zerknautscht unsere Sachen. Tuti ist leider schon verbucht, daher ziehen wir in eine andere AirBnB-Unterkunft weiter. Auf dem Weg halten wir noch an einer Patisserie, in der wir lokale Desserts probieren: Efibadem Cookies (Mandelkeks) und Beyadus cake (Kuchen mit Sahne, Kokos). Dann radeln wir 6 km aus der Stadt raus; die nächste Unterkunft ist ein ganz anderes Erlebnis als die am Tag davor: es handelt sich um ein Hotelzimmer, ohne Kontakt zum Vermieter in einer Wohngegend weit weg vom Stadtzentrum. Anders, aber für einen Tag am Computer zum Schreiben, Videos-schneiden und Emailen taugt es uns allemal. Und ein kleiner Spaziergang am Meer ist am Abend auch drin. Es versprüht mediterrane Atmosphäre: Rosmarin wird als Hecke gezogen, überall blüht es: Feigen, Oliven, Walnuss, Pflaumen, Kaki und Kirschen, Aprikosen. Als wir an einer davon an einem überhängenden Ast den Reifegrad befühlen, erklärt uns der Herr aus dem Nachbargarten, wie wir die reifen Früchte erkennen. Freundlichkeit zu Reisenden oder ‚Liebe‘ zum Nachbarn? 😉 Auf dem Heimweg besorgen wir in einem Supermarkt noch eine Spezialität der Region, die mich neugierig gemacht hat: Peynir Helvası. Wortwörtlich eine Mischung aus türkischem Käse und Halva (Süßigkeit aus Sesam). Ich liebe beides, ergo muss mir die Kombination schmecken! Zwar wird es traditionell warm gegessen und mit Eis/Pistazien serviert, doch schon die Supermarktversion überzeugt mich bereits!
Vom Balkon des 6. Stockwerkes aus sehen wir beim Schlemmen einen Pickup mit einem Tank auf der Ladefläche, aus einem Schlauch wird weißer Nebel versprüht. Nicht unbedingt ökologisch, aber in dieser Nacht schlafen wir mit offenen Fenstern und Türen sehr gut und ohne jegliche Mückenunterbrechung.
Wir haben die Windvorhersage schon am Vortag gesehen, so sind wir die ersten beim Frühstück (ist in den 10 € inklusive und lassen wir uns daher nicht entgehen) und starten bereits kurz nach 07:00 durch – doch der Wind aus Nord-Nordost ist bereits da. Die ersten 10 Kilometer fahren wir streng nach Norden, um aus der Stadt heraus zu kommen, heftiger Gegenwind macht uns das Vorankommen schwer. Dazu führt uns Komoot mal wieder über einen matschigen Trampelpfad in eine Sackgasse, aus der nur der Rückzug herausführt. Dann knickt unsere Route nach Osten ab, nun trifft uns der Wind eher von der Seite. In dieser Situation geschieht etwas Unerwartetes: plötzlich sind die LKWs unser Freund! Ein kurzer, angenehmer Moment entsteht, wenn der Brummi beim Überholen Windschatten gibt und einen Augenblick kein Wind von der Seite gegen das Rad zu pressen scheint.
So erklimmen wir die ersten 130 Höhenmeter, und wieder runter. Dann die nächsten 400 Höhenmeter, und wieder runter. Darauf folgt eine Etappe flaches Land, auf die ich mich während des Anstiegs schon freute, doch der Wind zieht unerbittlich über die abgemähten Stoppeln. Neben einem Bushäuschen suchen wir zur Mittagszeit bestmöglich Schutz, die Blechhütte ächzt unter dem Gebläse und durch den Spalt unter dem Gehäuse pfeift der Wind hindurch, die Tüte raschelt und das Besteck klappert auf dem Teller, es zieht uns fast das Mittagessen hinfort. Trotz der zugigen Position hält Till ein Mittagsschläfchen, um wieder Kraft für den Nachmittag zu tanken. Bei so viel Wind reitet er zumeist das ‚Zugpferd‘.
Wir hoffen, dass der Wind bis zum Nachmittag nachlässt, doch auch 16:00 ist noch kein Abflauen zu spüren. So setzen wir den Weg gegen den kräftigen Wind fort, langsam arbeiten wir uns 10 km bis zur nächsten Tankstelle vorwärts und rasten dort für ein kaltes Getränk. Die Mitarbeiter bieten uns Çay an, doch wir wollen noch ein paar Kilometer machen, bevor wir uns ein Wäldchen suchen werden. Nahe einer Quelle finden wir einen abgelegenen Platz zwischen den Lärchen, die Zikaden geben unserem Abendessen, bestehend aus Brot, Käse und einer ajvar-ähnlichen Paste ohne Etikett eine akustische Untermalung. Wir lassen uns anschließend unterm Moskitonetz zur Nachtruhe nieder, Hundegebell hält uns zunächst wach, bis ein zweiter Hund mit tieferer Stimme ein paar laute Beller loslässt, damit ist für Nachtruhe gesorgt. 🙂
Teilweise erinnert mich die Fahrt auf langen, weiten Straßen an Australien, wenn am Morgen die Sonne noch tief steht und es diesig ist. Damals haben wir gebetet: „Komm Sonne, komm schnell hinter den Wolken hervor und wärme uns und das Land schnell auf.“ Heute starten wir sehr früh und beten: „Los Sonne, bleib noch lange hinter der Wolke, damit es nicht so heiß wird.“ Langsam ändert sich die Landschaft. Es wird hügeliger und wenn auch anstrengender, so doch auch interessanter für das Auge. Granatapfelfelder, Feigenbäume, Olivenhaine, Melonen durchziehen das Land. Die Temperatur steigen täglich über 30°C und wenn es nicht gerade heftigsten Seitenwand gibt, sind gerade bei langsamer Fahrt die Laster wieder der Feind: heiße, stinkende Abgase pusten sie uns entgegen, wenn sowohl sie als auch wir im Schneckentempo den Berg hinauf kriechen.
Bei so viel Hitze ist es wunderbar, dass es überall frische Quellen gibt und man sich um die Wasserversorgung (Trinken, Kochen, Duschen, Wäschewaschen) keine Gedanken machen muss. Gedanken sollte man sich aber wohl um die Umwelt machen, überall liegt achtlos weggeworfener Müll herum. Warum? Ist es eine Frage von Unwissenheit? Einmal stehen wir beim Auffüllen unserer Wasserflaschen, als ein junges, gut gekleidetes Pärchen im Neuwagen hält, um ihre Erdbeeren zu waschen. Sie sind freundlich, geben uns von den Früchten ab, und werfen dann, als die wieder in ihren Wagen einsteigen, ihre Getränkedosen einfach neben die Quelle auf den Boden. Warum? Ihr habt die Dosen bis hierher gefahren, warum könnt ihr sie nicht auch wieder mit nach Hause nehmen? Mir bleibt der Mund offen stehen und ich bin unfähig, etwas zu sagen. Ein anderes Mal hält auf einer Bundesstraße ein Wagen, eine ältere Dame steigt aus, öffnet den Kofferraum, nimmt eine große Kiste Unrat und eine Tüte heraus, wirft beides in den Seitengraben und steigt wieder ein. Till ruft dem anfahrenden Fahrzeug zu: „Ihr seid solche Schweine!“, aber was ändert das nun schon. Es ist traurig und unverständlich, wie die sonst so liebevollen Menschen, die stolz auf ihr Land sind, so handeln können.
Das Müllproblem ist furchtbar, das Land muss unbedingt etwas dagegen tun. Für uns sind es am Ende des Tages aber andere Bilder, die uns in Erinnerung sind, wenn wir an die Türkei denken:
- Als ich in Yenice aus der Börekeci mit einer Tasche gefülltem Teiggebäck wieder heraus komme, sitzt Till schon bei einem Çay mit vier Männern zusammen.
- Ich denke an die vielen Einladungen zum Tee in kleinen Dörfern von heranwinkenden alten Herren beim Kartenspiel, von Teestubenbesitzern selbst, von Deutschtürken auf Heimatbesuch am Nachbartisch.
- Während wir sitzen, kommt von einem Nachbartisch ein Teller Trauben herüber.
- In den Städten sitzen wir oft nicht lange, bis sich jemand zu uns setzt, uns mit einem netten Gespräch versorgt und uns am Ende den Tee nicht zahlen lässt.
- An einer Raststelle hält ein junger Radfreund im Auto, versichert sich, dass wir auch alles haben und reicht uns dann noch ein paar Energieriegel durchs Fenster.
- In einem Park sitzend wird aus einem nahegelegenen Café der junge Kellner zu uns herüber geschickt, bringt uns Tee. Dann wird er nochmal geschickt und bringt uns Ayran. Als wir uns im Café bedanken wollen, werden wir nicht weg gelassen, bevor wir nicht noch einen Tee getrunken haben.
- An einer Tankstelle dürfen wir nicht nur auf dem dahinter liegenden gepflegten Rasenplatz für Hochzeitsfeiern campen, es kommen Getränke und Eiscreme für uns vom Besitzer.
- An einer anderen Tankstelle werden wir nach einer Tasse Çay mit vier Tupperdosen versorgt, in denen sich Kurdischer Reis, Baba ganoush, gegrillte Tomate und Salat finden. Wir glauben, dass es das Abendessen des Mitarbeiters war, dass seine Frau für ihn vorbereitet hatte (können wir wegen der fehlenden gemeinsamen Sprache aber nicht sicher herausfinden).
Es ist unbeschreiblich, oft ist es uns unangenehm und tut fast weh, die Gastfreundschaft auszuhalten. Wir versprechen uns dann, genau dies festzuhalten und möchten euch für zu Hause die Begegnung mit der Familie von Ozan mitgeben: Ozan ist Warmshowers-Host, auch wenn er den gesamten Tag arbeitet und beschäftigt ist, lädt er uns zu sich nach Hause ein, seine Familie nimmt uns ganz selbstverständlich und herzlich in ihrem zu Hause auf, versorgt uns mit hausgemachten Speisen und Getränken (Käse, Butter, Kirschsaft), traditioneller Kost aus dem eigenen Garten, einem gigantischen Lunchpaket bei Abreise und einer Rolle Klopapier für unterwegs (Klingt zwar komisch, hilft uns aber sehr weiter 😉 man kann nicht nur eine Rolle kaufen, immer nur im 10er-Pack, und was wollen wir mit einem 10er-Pack Toilettenpapier auf dem Fahrrad? Als das zur Sprache kommt, wird uns sofort eine Rolle geholt). Sie waren nie selbst auf Reisen (und werden es wohl auch nie sein), wissen aber um die Gastfreundschaft, die ihr Sohn erfahren hat, als er ein Jahr mit dem Rad in der Welt unterwegs war. Und das bedeutet ihnen so viel, dass sie selbst ein Stück davon den Reisenden, die bei ihnen einkehren, zurück geben wollen! Das ist eine Form der Dankbarkeit, die das Geben-Nehmen-Prinzip, auf dem die Warmshowers-Seite Community aufbaut, bei weitem übersteigt; es beeindruckt uns zutiefst!
Schön zu lesen, dass es auch noch nette, gastfreundliche Menschen gibt. Leider trifft man die bei uns nicht ganz so oft… Allerdings wünsche ich euch, dass es bei euch so weitergeht!
Ganz liebe Grüße
Hallo Christiane,
Vielen Dank für deine Wünsche 🙂 Glücklicherweise sind wir im arabischen Raum noch ein wenig unterwegs und können schon jetzt spoilern, dass dies nicht die einzigen gastfreundlichen Momente geblieben sind. Wir sind sehr dankbar für diese Erfahrung und wollen sie gerne weiter tragen. „Be the chance you want to see in the world!“
Beste Grüße nach Leipzig. Janine
Türkei = Gastfreundschaft = kulinarisches Erwachen
Es freut mich sehr zu hören, dass diese beinahe überbordende Gastfreundschaft auch heute noch so gelebt wird. Ich hatte in den frühen 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts das gleiche Erleben
und konnte mich in 5 Wochen kaum daran ‚gewöhnen‘.
Zudem gab die Türkei mir ein bis dahin unbekanntes ‚kulinarisches Erlebnis‘ .
Alles soooo lecker… und süßes Gebäck und alles andere konnten sie auch ! Und alles sooo anders als zu Hause ! Hammer.
Es gab alles. Was es nicht gab: Tourismus. Die Anzahl der einheimischen Führer an den antiken Stätten war deutlich größer als die zu führende Touristenschar. Herrlich.
Ich habe es genossen. Und ich weiß, wie sehr ihr das ebenfalls genießt.
Danke für eure Berichte.
Hallo Klaus,
manchmal kommt man sich schon ein wenig „zu spät geboren“ vor um noch echte Entdeckungen zu machen. Alles scheint bereits ausgiebig touristifiziert, im Lonley Planet beschrieben und abgestumpft zu sein… Die ganze Türkei von Touristen besetzt… Die Ganze Türkei? Nein nicht nur ein
gallischestürkisches Dorf, sämtliche Dörfer scheinen von unbeugsam gastfreundlichen Menschen bevölkert zu sein, die nur darauf warten, diejenigen die sich dorthin verirren mit ihrer Freundlichkeit und einem Zaubertrank mit zu viel Zucker in Erstaunen zu setzen. Und nicht nur das, selbst die Türken die wir in Deutschland während ihrer Gastarbeiterzeit so gut wie möglich „Umerzogen“ haben werden mit Eintritt Rückkehr in ihre Heimat von deutschen Tugenden befreit und laden mit lächeln im Gesicht zum verweilen ein.Vom leckeren Essen zeugen ein paar extra Kilo auf den Rippen und Listen mit Nachkochideen in Janines Tagebuch 🙂
Liebe Grüße