Der bulgarische Grenzbeamte, der uns eben verabschiedet hat, deutet uns mit einer Geste, wir sollen weiter nach vorne zwischen Autos und Bussen vorbei fahren. Gut, das lassen wir uns nicht zweimal sagen und fahren im staatlosen Land zwischen den dicht an dicht stehenden Fahrzeugen hindurch, grüßen die teils genervt schauenden Wartenden freundlich und etwas verlegen, bis zu einer Stelle, an der ein Poller als Abgrenzung der Busspur uns das Weitervorkommen zunächst versperrt. Wir blicken uns um, 95% der Kfz haben ein deutsches Kennzeichen, unglaublich, alle aus der Heimat. Einer ruft uns zu, wir sollen doch weiter vor fahren, schließlich haben wir im Gegensatz zu den PKWs keine Klimaanlage, und sobald sich eine kleine Lücke auftut, folgen wir seinen ermunternden Rufen auch. So schieben wir, bis wir fast das türkische Grenzhaus erreicht haben. Der Pkw, vor dem wir nun einscheren wollen, murrt uns grimmig an, was das soll, sie warten schließlich schon lange. Eine Familie aus Duisburg vor ihm bekommt das mit und winkt uns zu sich, wir sollen vor ihnen einscheren, schließlich brauchen wir doch nicht lange, haben keine Versicherung und nichts zu verzollen. Sie sind total angetan vom Fahrrad als Fortbewegungsmittel und eine nette Unterhaltung entsteht (selbst mussten sie 16h an der Grenze nach Bulgarien warten, was für ein Urlaubsbeginn). Fast ist es schade, als wir schon dran sind. Dann geht es ganz schnell, Pässe zeigen, Stempel rein, weiter fahren. Und dann sind wir eingereist. Wir sind beschwingt, nun die EU hinter uns zu haben. Es führt nur eine Hauptstraße nach Edirne, doch der Seitenstreifen ist mindestens zwei Meter breit. Die Autos hupen uns zu zum Gruß und beim Überholen, die Mehrtonhupen sind wieder da. Wir haben Rückenwind, fast fliegen wir die nächsten 20 km über den Asphalt. Nach einer Stunde sitzen wir bereits im Zentrum von Edirne.
Zunächst einmal müssen wir einen Çay trinken. Ab jetzt zahlen wir mit türkischen Lira, der Kurs ist 1:10 (1 € ~ 10 TRY), ein Çay kostet 2 TRY. Dann besichtigen wir die Selimiye Moschee (Weltkulturerbe) und die Große Synagoge von Edirne (die größte der Türkei) und dann trinken wir noch einen Çay 🙂 Wir sind fasziniert von der ausgeglichenen und friedlichen Atmosphäre in den Teegärten. Lange sitzen wir auf dem Polis Parki und genießen es, das Leben und Treiben zu beobachten. Man spürt irgendwie die erleichterte Stimmung darüber, dass vor wenigen Tagen die Corona Einschränkungen gefallen sind. Einer erzählt uns, dass es vor Corona jeden Samstag eine Hochzeit gab, nun sind es drei am Tag. Tatsächlich sehen wir viele geschmückte Wagen und tanzende Brautpaare auf den Straßen.
Dann wird es Zeit, einen Platz für die Nacht zu suchen. Wir verlassen die Stadt Richtung Süden auf schmalen Straßen, die bald zu sandigen Feldwegen werden. Zwischen den Feldern finden wir schon ein Plätzchen, denken wir zunächst, doch es sind alles… Reisfelder und dazwischen Wassergräben. Das geflutete Terrain ist denkbar schlecht, um dort ein Zelt aufzustellen. Auf unserer Karte ist nach ein paar Kilometern ein Campingplatz verzeichnet, wir fahren dorthin, um festzustellen, dass er geschlossen hat, niemand ist weit und breit zu sehen. Uff. Was nun?
Wir haben gehört, dass man an Tankstellen fragen und manchmal sein Zelt dort aufstellen kann. Das haben wir auf unserer letzten Reise nie gemacht, beschließen aber, unser Glück an der nächsten Tanke zu probieren. Wir folgen also der Hauptstraße Richtung Istanbul, bis wir die erste Tankstelle erreichen. Ein junger Mann ist mit unserer Anfrage sichtlich überfragt, hier kommen so viele Leute vorbei und es sei doch gar nicht sicher. Es scheint ihm unangenehm, hier eine Entscheidung zu treffen, also fahren wir weiter. Wir sind noch nicht weit von Edirne weg und die Tankstellen kommen in kurzen Abständen. Auf dem Weg zur nächsten überholt uns ein Rennradfahrer, grüßt uns und ist auch schon davon. Wir sind aber froh, als wir an ihn an der bald kommenden Tankstelle haltend entdecken. Er spricht zwar nur sehr wenige Worte Englisch, doch schnell ist eine kurze Konversation entstanden und wir können ihn animieren, für uns bei den Männern an der Tankstelle nach einer Möglichkeit zum Aufstellen unseres Zeltes zu fragen – das beugt Verständigungsproblemen vor. Er ist gleich dabei, sein Ton klingt für uns viel mehr nach einer Aufforderung („Die übernachten heute hier!“) als nach einer Frage. Jedenfalls haben die Jungs von der Shell nichts dagegen. Der Rennradler zeigt uns ein Stückchen grünen Streifen neben der Tankstelle, wo wir das Zelt aufbauen können. Hier sei es sicher, hier gäbe es keine Schlangen. Schon interessant, wovor sich jeder so fürchtet 😉
Es ist etwas hell und laut neben der 24/7 geöffneten Tankstelle, doch wir schlafen sehr gut. Nach einem Kaffee mit den Jungs von der Schell am Morgen verlassen wir die Hauptstraße wieder und folgen unter dem strahlend blauen Himmel kleinen Nebenstraßen auf und ab durch Felder mit Sonnenblume, Mais und Weizen. Es ist ruhig, neben uns sind fast nur Landwirtschaftsfahrzeuge unterwegs. Ein Traktor überholt uns bergauf, dann überholen wir ihn wieder, als es bergab geht, doch schon gleich geht es den nächsten Hügel rauf und er überholt uns wieder. Ein ulkiges Spiel.
Wir haben heute einen kurzen Fahrtag, nur 50 km liegen vor uns bis Uzunköprü, hier wollen wir Şeref treffen. Seinen Kontakt haben wir von der Warmshowers-Seite, er kann zwar nicht hosten, doch für einen Plausch ist er immer zu haben, so haben wir uns für den Nachmittag mit ihm verabredet. Doch bis dahin ist noch Zeit, wir machen eine lange Frühstückspause. Da wir noch Wasser von der Schell haben, können wir die Gelegenheit hinter ein paar Büschen zum Haarewaschen nutzen. Am Mittag erreichen wir dann die Stadt und suchen ein Café mit WiFi zum Überbrücken der Zeit und für ein paar Recherchen. Café mit WiFi ist keine Selbstverständlichkeit! Doch die freundlichen Bewohner der Stadt, die gleich fragen, was wir suchen und ob sie behilflich sein können, sind sich einig: das ‚Kahve deryası‘ hat WiFi.
Das westlich wirkende Café unterscheidet sich zwar deutlich von den kleinen authentischen Teestuben, die wir normalerweise ansteuern, doch heute ist es genau das, was wir suchen. Wir lassen uns zu einem türkischen Kaffee nieder – vielen Dank an den edlen Spender von Kaffee über unsere Website! Dann checken wir E-Mails, lernen die Zahlen von 1-4 auf türkisch (das reicht um beim Bestellen sagen zu können, wieviel wir wollen: ein Brot, zwei Tee, vier Äpfel) und die wichtigsten Vokabeln (Wasser, Brot, Bitte, Danke, Guten Tag). Leider eröffnet uns auch das Internet, dass wir in ein Landweg-Dead-End gefahren sind. Es fahren keine Fähren ab Zypern mehr, zusätzlichen sind die iranische und israelische Grenze wegen Corona dicht.
Der Schock sitzt uns zunächst noch im Nacken als wir gen Stadtrand fahren. Şeref hat uns eine Tankstelle empfohlen, an der wir nach einem Platz für das Zelt fragen können. Der Tankwart ist ganz freundlich, gestikuliert, dass er uns in der Stadt bereits gesehen und damit gerechnet habe, dass wir heute noch bei ihm aufschlagen und bringt uns erstmal einen Çay. Damit lässt sich die ernüchternde Nachricht doch erstmal etwas verdrängen, irgendein Weg wird sich finden, sagen wir uns, erstmal liegen noch über Tausend Kilometer bis Kappadokien vor uns und dann sehen wir weiter. Bis dahin heißt es: abwarten und Tee trinken, und genau das machen wir jetzt.
Şeref ist ein witziger Zeitgenosse, der im Land von verschiedenen Weißbroten einen richtigen Sauerteig gezogen hat und leidenschaftlich Sauerteigbrote bäckt und verkauft. Die Stunden vergehen wie im Flug, als wir uns über Brote, das Leben und das bessere Leben austauschen. Er lässt für uns drei Abendessen hinter die Tankstelle liefern, und mit Blick über das angrenzende Sonnenblumenfeld auf einem Mäuerchen sitzend genießen wir Abendessen, Austausch und Gesellschaft. Eine ganz besondere Form der Tankstellenromantik.
Nachdem wir uns von Şeref verabschiedet haben, fällt es uns zunächst schwer, Ruhe zu finden. Erst haben wir eine Gottesanbeterin im Zelt, sitzt auf Tills Schulter und ich muss erstmal googeln, ob die gefährlich sind (nicht für den Menschen, nur für Männchen), die ansässigen Hunde schleichen neugierig um das Zelt und dann bedarf es noch einiger Zeit, bis wir herausgefunden haben, woher die seltsamen Zisch- und Fauchgeräusche kommen: die jungen Kauze auf dem Dach rufen nach ihren Eltern und wollen gefüttert werden. Es ist so süß (und es ist schön, dass es kein Gasleck ist).
Unsere Route führt uns am folgenden Tag zunächst weitere 44 km auf einer Hauptstraße nach Süden, in Keşan wollen wir fürs Frühstück halten. Kurz vorm Erreichen der Stadt reist Till das Schaltseil. Doch die letzten 10 km geht es bergab, da können wir erstmal in einem Park ankommen und uns an einem Kuchen stärken bevor er es gelassen repariert. Ohne dass Autos dicht an uns vorbei rauschen und ohne Verkehrslärm erledigt er dies mit viel Geduld, obwohl mit Verbauen des letzten Schaltseiles doch ein gewisser Druck auf dem Gelingen dieser Reparatur beim ersten Anlauf lastet. Ich bin beeindruckt von der Ruhe, die er dabei hat.
Die Reparatur gelingt und wir fahren weiter Richtung Süden. Am Mittag ist es zwar eigentlich noch ein bisschen früh, für eine erneute Pause, doch Şeref hat uns ein Restaurant für Turk Kahvaltı (das traditionelle türkische Frühstück, das nicht nur in der Früh gegessen wird) empfohlen. Das wollen wir uns nicht entgehen lassen, halten, und werden es nicht bereuen. In einem schattigen Garten werden uns neben Wasser, Tee und Kaffee ganze 14 Schüsseln serviert! Brot, Börek, frittierte Teigteilchen, Rührei, Sucuk (Wurst wird wegen mir separat gereicht), gebratene Kartoffeln, Honig, Marmelade, Butter, Käse, Ajvar, Salat, Oliven, Johanninüsse, getrocknete Aprikosen und Walnüsse. Es ist unglaublich lecker, so sehr, dass wir danach noch eine lange Pause dort machen müssen, bevor wir uns wieder bewegen können. Einen kurzen Moment habe ich noch Bammel vor der Rechnung, da wir wegen der Empfehlung gleich bestellt und nicht nach dem Preis gefragt hatten. Für all das werden 5€/Person veranschlagt. Ich bin überrascht, aber in die andere Richtung als ich gedacht hatte.
Die Kahvaltı-Erfahrung stimmt uns sehr heiter, leider fährt es sich so gefüllt gar nicht so leicht. Die folgende Passage eines 320-Höhenmeter-Anstieges bei den heißen Temperaturen macht uns doch zu schaffen. Nach der Abfahrt jedoch haben wir Rückenwind, das erste Mal seit Montenegro sehen wir das Meer, und als wir dann noch ein Schell-Station-in-5-Kilometern-Schild sehen, ist der Schlafplatz so gut wie gesichert 🙂
Erwartungsgemäß ist die Übernachtung auch diesmal kein Problem. Der Rückenwind trägt uns am nächsten Tag weiter die Halbinsel Gallipoli hinunter, über Gelibolu bis nach Eceabat, wo wir auf die Fähre nach Çanakkale steigen werden. Zwar ist es die Halbinsel entlang etwas hügelig, doch bin ich froh, dass der Ausbau der neuen Straße noch nicht fertig ist: hier werden gerade jede Menge Tunnel in den Fels gehauen! (Radlers Graus und des lichtlosen Radlers umso mehr) Und das obwohl die vorhandene Straße noch in gutem Zustand ist. Wir verstehen ohnehin den Ausbau nicht, da im Norden der Halbinsel, eine ‚golden-gate-bridge‘ (so nennen wir sie, weil das Gerüst, das heute steht, an das amerikanische Vorbild erinnert) gebaut wird. Die Fahrt in den Süden der Halbinsel wird mit dieser Abkürzung und damit der Umfahrung der Fähre für viele Autofahrer in Zukunft entfallen.
Aber unsere Gedanken sind bald wieder bei der existierenden Fährverbindung, die für uns mit Fahrrad 1€/Person kostet. 80 Minuten zwischen europäischem und asiatischem Kontinent. 80 Minuten Seeluft und dann rollen wir die Rampe zu asiatischen Abenteuern hinab!
Oh das sieht alles so lecker aus
Schade, dass man nur Kostproben für die Augen, aber nicht für den Gaumen übers Web versenden kann 😅 Aber angesetzte Johanninüsse habe ich noch um Keller eingelagert, die können wir als Exempel öffnen, wenn wir zurück sind. Liebe Grüße aus Jordanien!