Transalp: über die Schweizer Alpen mit dem Rad

Es regnet. Die gesamte Woche ist Dauerregen angesagt. Es hat 8°C, Tendenz zu Graden unter Null, und keine der Anfragen an einen Host in der Schweiz wurde beantwortet. So wachen wir am Montag, den 17. Mai 2021, nach einer Nacht von einer auf die andere Seite gewälzt auf, die Schweizer Alpen vor uns. Ich atme tief durch. Hmmm…Haaaa… Es gibt nur einen offenen Pass über die Schweizer Alpen – aber einer reicht uns doch. Es gilt dabei zwei Pässe auf ca. 2000 m zu überwinden – wir hatten das Voralpentrainigslager, also werden wir die drei Tage auch schaffen, und danach wartet die Sonne. Es wird sehr kalt – ich werde in Hand- und Fußwärmer-Pads investieren, die bringen mich über den Pass! Nass und kalt im Zelt – es wird sich etwas ergeben. So verlassen wir Konstanz, so verlassen wir Deutschland. Wärmepads und Verpflegung sind in unserem Gepäck (auch wenn die Suche nach den Wärmern vier Anläufe und 32€ gekostet hat, damit fühlen ich mich gewappnet und daher ist es mir das wert) Als wir zur Schweizer Grenze radeln, sind wir ein bisschen nervös, ob die Aus- und Einreise problemlos funktionieren wird. Keine Grenzkontrollen, keine Probleme.

Gleich nach der Grenze steigt der Weg sehr steil an. Der Wind bläst uns kräftig entgegen und peitscht uns dir Regentropfen ins Gesicht. Als der erste Anstieg bezwungen ist und sich schon ein Gefühl der Erleichterung in mir breit macht, gibt es aus der Tretlagergegend ein verdächtiges Geräusch. Und ich trete plötzlich ins Leere. Vor lauter Verdutztsein begreife ich gleich gar nicht, was passiert ist. Ich sehe nach unten: eine Kurbel samt Pedal ist weg, einfach abgebrochen. Till liest das verlorene Teil hinter mir auf, erstmal einen Müsliriegel essen. Unter dem Vordach einer Scheune befestigt er die Kurbel wieder. Beim Absturz habe ich ein paar Gewinderinge eingebüßt, das macht die Befestigung nicht einfacher. Weiter geht es ruhige Feldwege entlang, der Wind zieht unbarmherzig über das baumlose Stück Land. Erneut gibt es ein komisches Knacken – und die Kurbel ist ab, samt weiterer Ringe vom Gewinde. Tiefes Atmen. Diesmal befestigt Till den Kurbelarme mit einer ordentlichen Portion Loctite. Ganz vorsichtig steige ich wieder auf, nach einem Kilometer fühlt es sich schon wieder an, als hätte die Kurbel Spiel, also nochmal nachziehen. Na das kann ja was werden, wenn ich in den Steigungen richtig Last darauf geben muss.

Erste Schweizer Eindrücke

Aber die Kurbel hält, der Weg führt uns auf gut beschilderten Radwegen und ruhigen Nebenstraßen durch gelbe Wiesen und entlang grüner Felder. Trotz des starken Gegenwindes sind wir gut gestimmt, denn der Regen kommt nur noch stoßweise (viel Zeit zum Unterstellen und Müsliriegel essen) und es haben sich noch zwei Hosts für die nächsten beiden Nächte gemeldet. Das gibt mir Auftrieb. Einen Tag im Regen zu fahren ist erträglich, wenn man weiß, dass am Abend ein warmes Bett wartet und man die nassen Kleider trocknen kann.

Bergbäche in den Wiesen

Und was am Abend auf uns wartet. Nach einem Tag, an dem der Wind alle vier Jahreszeiten abwechselnd über uns hinweg fegte, empfängt uns Isabel mit einer Dusche und echten Schweizer Rösti mit Zwiebelsoße. Nach all diesen Müsliriegeln kommt es mir wie ein Festmahl vor!

In der Nacht regnet es viel, doch wir liegen trocken im Bett und würdigen das Dach über unserem Kopf. Heute ist der erste Tag mit einer richtigen Steigung. Es geht auf 1000 m hoch, als kleiner Einstieg, danach wieder runter. Laut Wetterbericht liegt ein Regentag vor uns, daher starten wir in Regenkleidung. Den Berg hinauf schwitze ich wie verrückt unter der undurchlässigen Schicht. Doch wir ziehen sie nicht aus, denn es regnet viel weniger als angekündigt – der Regenschirmeffekt. So strampeln wir tapfer die Almen hinauf, Meter um Meter geht es langsam voran. Als wir den höchsten Punkt erreichen, fühlt es sich schon an, als hätten wir einen 8000er bezwungen. Es kommt uns unglaublich hoch vor. Den beängstigenden Gedanken, dass wir morgen doppelt so hoch sein werden (und mehr als dreimal so viele Höhenmeter zu bewältigen haben) lassen wir die frische Luft schnell hinweg wehen. Oben ist es deutlich kühler, aber wunderschön. Die Zeit scheint ein wenig langsamer zu laufen, die keinen Hütten der Almen liegen ruhig da, die Kühe grasen selig unter den dicken grauen Wolken, eine Bank am Wegesrand lädt zum Blick auf die Hochebene und die umliegenden Berge ein, überall sprudeln frische Quellen aus den Wiesen.

Erster Anstieg

Noch einmal unterstellen, ein bisschen Regen vorbeiziehen lassen, dann geht es in einem Rutsch wieder hinunter auf 400 m ü.N.N. Es ist schon beeindruckend, man strampelt eine kleine Ewigkeit, bis man oben ist, und in wenigen Minuten ist man wieder hinunter gesaust. Wie beim Schlittenfahren früher. Warum denke ich an Schneeaktivität? Mein Geist stimmt sich wohl schon auf morgen ein.

Eidechsen am Wegesrand

Im Tal ist es gleich spürbar wärmer und die Sonne blitzt hervor. Wir nutzen den schönen Moment, um an einem Wehr zu halten und uns ein paar gefüllte Weinblätter aus der Dose und etwas Brie schmecken zu lassen, die letzten Reste aus dem deutschen Supermarkt machen doch was her, oder? So können wir gestärkt weiter südlich am Ufer des Vierwaldstättersees entlang fahren. Der Blick auf das klare, blaugrüne Wasser, das mit bunten Punkten von Booten und Seglern geziert wird, unter den grauen Felsen am Ufer ist fesselnd. Nur die vielbefahrene Hauptverkehrsstraße direkt am Ufer neben uns trübt den Genuss ein wenig. Überall wo es schön ist, baut der Mensch Autobahnen hindurch. Das macht es nicht schöner.

Vierwaldstättersee

Wir füllen noch einmal bei Aldi, dem günstigsten Supermarkt in der Schweiz (wobei auch hier günstig relativ ist) sorgfältig ausgewählt Lebensmittel auf. Auf der einen Seite werden wir die kommenden zwei Tage keinen günstigen Supermarkt finden, auf der anderen Seite will man nicht mehr Gewicht als unbedingt nötig auf 2000 m den Berg hinauf fahren. Also. Instantnudeln, Toast, Müsliriegel sind leicht und machen satt. Eine Tube Mayo und eine Dose Thunfisch – nicht ganz so leicht aber unter Abwägung von Gewicht, Sättigungspotential, und Energiezufuhr passabel. Dann noch ein paar Eier, die wir am Abend kochen werden. Das klingt doch nach einer guten Bergsteigerverpflegung.

Blick auf die Berge

Bepackt machen wir uns auf zu Host Lisa. Sie ist zwar noch bei der Arbeit, hat uns aber einen Schlüssel gelegt und mit einer genau bebilderten Anleitung führt sie uns in der Wilhelm-Tell-Stadt Altdorf zum Hinterhof des Hauses, dem Schlüssel, und der Wohnung. Während es sich draußen zuzieht und wieder stärker zu regnen beginnt, freuen wir uns sehr über die Gastfreundschaft und planen den nächsten Tag. Leider habe ich verpasst, dass das Roaming in der Schweiz als Nicht-EU-Land unsäglichen teuer ist! 0,20 € für 50 MB Datenvolumen fand ich gar nicht so viel – genau hingeschaut, sagt die SMS aber, dass es 0,20 € für 50 KB sind! So schnell kann ich gar nicht gucken, sind 30 € flöten gegangen. Das ist bitter und ich ärgere mich über meine offensichtliche Leseschwäche.

Wilhelm Tell Stadt Altdorf

Der folgende Tag wartet also mit einem Aufstieg auf 2000 m, dann einer Abfahrt auf 1000 m und noch ungewissem Ausgang, wo wir die Nacht verbringen werden. Es wird regnen und schneien, auch für Disentis auf 1000 m sind Schnee und Minusgrade angesagt. Es gibt einen Campingplatz, das wird kalt und nicht schön dort nass abzusteigen, doch des Preises wegen meine favorisierte Variante. Till ist für ein Hostel, zum stolzen Preis von 78 €\Nacht. Keiner will recht von seinem Favoriten abweichen und wir argumentieren jeder das Für und Wider. Till: warm, heiße Dusche, Erholung für den kommenden Tag und erneuten Aufstieg, Trockenmöglichkeit für Kleidung, Zelt und Campingausrüstung sind nur auf Sommer ausgerichtet. Ich: günstiger, günstiger, günstiger, und wir haben zwei schwarze Mülltüten um sie über die Schlafsäcke zu ziehen und damit besser zu isolieren. Das entscheidende Argument bringt Lisa, als wir am Abend noch eine Stunde zusammensitzen: sie bezweifelt mehr als stark, dass der Campingplatz im Schnee und bei den Temperaturen geöffnet ist, da ist die Nachfrage doch eher sehr gering. Damit gebe ich mich geschlagen, wir investieren und buchen das Hostel. Gut, ich gestehe, ganz insgeheim bin ich froh über meine Niederlage. Neben der Erleichterung bringt die Entscheidung mit der Buchungsbestätigung eine neue Komponente ins Spiel: Zeitdruck. Letzte Möglichkeit für Check-in: 17.00.

Nur zwei Pässe geöffnet – über die müssen wir

In der Nacht kommen mir alle möglichen Fahrrad-im-Schnee-Szenen in den Träumen vor. Ich weiß, viele Radler fahren auch im Schnee, doch ich habe Respekt davor. Ja, ich habe Angst. Der leckere Milchkaffee, den uns Lisa am Morgen zubereitet, zaubert aber ein wohlig warmes Gefühl in die zuvor flaue Magengegend, das Müsli bringt den ersten Energieschub, und so starten wir um 07:00 bei 0°C und Regen unsere Fahrt. Das Navi scheint auch aufgeregt zu sein und schickt uns noch auf ein paar Ehrenrunden durch die Stadt, dann haben wir endlich den Weg gefunden, der aus dem Tal heraus und auf die hohen Berge zuführt. In der Nacht hat es weiter oben noch einmal ordentlich geschneit, die Tannen auf den Hängen, die das Tal eingrenzen, sehen wie gezuckert aus. Das macht mir ein bisschen Sorge bezüglich der Passierbarkeit des Passes, doch die Straßenschilder für die PKWs zeigen: alle Pässe gesperrt, Oberalppass offen und passierbar.

Ausläufer eines Gletschers

Nach ein paar flachen Kilometern beginnt der Anstieg auf einer ruhigen Straße, im ersten Gang geht es im Schneckentempo bergauf. Der Regen lässt nach und es kommt weniger Nass von außen, aber unter der Regenjacke staut sich die Nässe. Trotz der kühlen Temperaturen muss ich bei jeder Pause Mal die Jacke ausziehen, um zu lüften. Solange man sich bewegt, und damit meine ich in unserem Fall ja ordentlich strampelt, bleibt man gut warm. Die erreichte 1000-Höhenmeter-Marke feiern wir mit einem 2. Frühstück: in Göschenen halten wir kurz und es gibt nur schnelle Snacks: Ei, Madeleines. Noch 10 km bis Andermatt – dann ist die Hälfte des Anstiegs geschafft.

Alte Brücke über einen neben uns ins Tal laufenden Bach

Unsere kleine Straße mündet auf eine größere. Der Anstieg wird steiler, der Verkehr nimmt deutlich zu, der Seitenstreifen für die Radler wird immer schmaler. Es geht durch kurze Tunnels (ich habe kein Licht) und eine Reihe an Galerien (wie Tunnel mit Fenstern) liegt entlang der sich den Berg hinaufwindenden Straße vor uns. An einer Stelle geht der Radweg von der Straße ab, über die Galerien drüber, er ist aber gesperrt. So bleibt uns nichts anderes übrig, als mit den Lastwagen auf der Straße durch die Galerien zu fahren. Ich trete in die Pedale, um die unangenehme Passage schnell hinter mich zu bringen, doch wirklich schnell ist man bei der Steigung natürlich nicht. Nur schnell total außer Atem, nach jeder Galerie muss ich anhalten und eine Luftholpause machen. Noch 6 km bis Andermatt. Der Schnee neben uns und auch der auf der Straße nimmt zu. Ein kalter Wind zieht auf.

Durch diese Galerien sind wir aufgestiegen

An einer Stelle ist ein weiterer Abzweig auf den gesperrten Radweg. Alles besser als mit der ununterbrochenen Autokette durch die Galerien zu fahren. Also queren wir in einem günstigen Moment die Straße und steigen auf den Fahrradweg ein. Schnell wird deutlich, warum dieser gesperrt ist: er ist nicht geräumt. Wir denken an die volle Straße: nein, wir haben dicke Reifen mit Profil, weiter auf dem Fahrradweg. Der Schnee ist nass und schwer, und man strampelt viel Energie in den Boden. Der Schnee wird immer mehr und irgendwann wird es bei dem Anstieg unmöglich zu fahren. Wir müssen schieben. Noch 4 km bis Andermatt. Mir schwindet die Hoffnung, dass wir das schaffen, wir haben noch nicht einmal die Hälfte der Höhenmeter hinter uns. Wenn es hier schon so aussieht, wie geht es dann auf der anderen Hälfte weiter?

Schnee und Eis

Nach einem weiteren Kilometer findet sich eine Möglichkeit von dem Fahrradweg auf die Straße zurückzukehren. Die Gelegenheit ergreifen wir sofort. Hier ist kaum Schnee, nur nass, der Anstieg wird etwas flacher und auch die Galerienschwämme scheint beendet. So erreichen wir am Mittag Andermatt, ein kurzes flaches Stück in der Stadt erfreut meine Beine ungemein. Wir halten kurz an, um einen weiteren Snack zu uns zu nehmen: Müsliriegel, ein Pfirsich und ein paar Kekse. Die Straße teilt sich hier: eine führt weiter Richtung Süden, mit dem Abzweig zum Gotthardpass, eine knickt nach Nordosten ab, zum Oberalppass. Ein Mann auf einem Fahrrad spricht uns an. Er erzählt uns, dass der Gotthardpass eigentlich geräumt ist aber der Tunnel danach gesperrt. Es gibt zwar eine alte Straße drum herum, aber da herrscht Lawinengefahr. Nein, wir bleiben bei unserem Oberalppass, der sei auch frei bestätigt uns der Mann. Das lässt uns schon mal hoffen.

Der Galcier Express
Stetig berauf

Wir liegen gut in der Zeit, sind wir uns einig. Als wir nach Nordost abknicken, liegt der Berg, den wir bis hierher hinauf kamen, in Windrichtung. Plötzlich geht es ganz anders voran. Er bricht den Wind, das macht es schon mal viel angenehmer, hier ist kaum noch Schnee, und der Verkehr nimmt glücklicherweise den Weg nach Süden. Wir haben wieder Ruhe um uns herum und können den schönen Aufstieg durch das durch und durch schöne Alpenpanorama genießen. Die Wiesen sind mit Krokussen besetzt, es klart auf und lässt die Berge leuchten, Quellen plätschern überall neben uns aus dem Berg. Wir haben Durst und die Quellen laden zum trinken ein. Doch wir halten uns an das heiße Wasser, das wir in den Thermosflaschen dabeihaben.

Hier blüht der Enzian

Die Bäume verschwinden, die Landschaft wird karger, der Schnee auf den Wiesen mehrt sich wieder, aber die Straße, die sich in endlosen Serpentinen den Berg hinauf zieht, ist schneefrei. Am Rand ist die Kante der Schneefräse zu sehen. Die Vögel geben komische Pfeiflaute von sich. Einzelne winzige Steinhäuschen mit wenigen holzbeschlagenen Fenstern sind zu sehen – ob sie bewohnt sind? Es gibt kein Zeichen von Leben. Aber zu einem Zweck müssen sie ja gebaut worden sein. Neben uns schlängelt sich ebenfalls langsam und stetig der Glacier Express den Hang hinauf. Immer wieder fährt einer der Züge an uns vorbei. Als wir einmal ganz nahe sind, sehen wir die wenigen Insassen uns zuwinken. Was Ihnen wohl durch die Köpfe geht?

Die Serpentinen enden und die Straße führt nun mehr oder weniger strikt auf eine Lücke zwischen zwei Felsspitzen hinzu. Da geht es durch. Der Pass fühlt sich bereits vier Kilometer vor Erreichen des höchsten Punktes zum Greifen nahe an. Doch in unserem Tempo geht es nur langsam voran. Viel zu langsam. Wir werden schon fast ungeduldig. Es ist trotzdem ein tolles Gefühl. Die frische Luft, die Sonnenstrahlen, die Vorfreude und die schwarzen Punkte, die über den Schnee huschen – was ist das denn? Wir schauen genau hin: Murmeltiere! Wow! Meine ersten Murmeltiere! Ach, jetzt wird uns auch klar, was das vorhin für komische Vogellaute waren – das war Murmeltiersound 🙂

Murmeltiere

Dann ist der Moment gekommen, ein Haus kündigt das baldige Erreichen des Passes an. 2060 m ü.N.N. Wir stoppen, um den Moment wirken zu lassen, wollen ein Foto schießen, einen Müsliriegel essen, uns für die Abfahrt warm anziehen. Es ist 15:00 und damit ausreichend Zeit für ein kleines Genießerprogramm. Doch schon als wir absteigen sehe ich hinter uns die Wolken schwarz zusammenziehen. Der eben noch vorhandene Sonnenschein ist mit einem Schlag verschwunden. Bevor wir uns versehen können zieht ein Schneesturm über uns herein. Bilder, Essen, Moment genießen: fallen aus, nur warm anziehen muss sein bevor wir uns die Abfahrt hinunter stürzen, dem Sturm, Schnee und Eis zu entkommen. Die harten runden Schneekörner prallen uns gegen die Stirn, als wir die Serpentinen hinunter fahren. Der Wunsch nach Entkommen steht in Konflikt mit der Angst vor Glatteis auf der nassen Straße. Wir hoffen auf besseres Wetter und Temperaturanstieg mit jedem Höhenmeter, den wir hinter uns lassen. Immer wieder muss ich anhalten, um die eisigen Finger (trotz Fingerwärmer, die leider nicht funktionieren) vom Dauerbremsen warm zu reiben. Die Zehen kann ich schon nicht mehr spüren, aber Füße sind für die Abfahrt erstmal nicht so wichtig. Nur runter.

Eine Stunde etwa kostet die Abfahrt, eine Strecke die auch Teil der Tour der Swiss ist. Dann endlich können wir die ersten Häuser von Disentis sehen. Wir schauen auf der Karte nach, wo sich das Hostel befindet. Ich will unbedingt vermeiden, dass wir daran vorbei rauschen und dann den Berg wieder hinauf müssen. Dann entdecken wir ein Gebäude mit der Aufschrift Catrina Lodge. Wir fahren hin: Es ist alles dunkel, keiner da. Ich stehe fassungslos vor der verschlossenen Tür. Da fällt Till ein, es ist nicht Catrina Lodge, es heißt Catrina Hostel. Wir suchen weiter und im Komplex vom Catrina Resort finden wir schließlich das Hostel. Ich bin erleichtert, als ich durch die Scheibe eine Dame an der Rezeption stehen sehe.

Das Vier-Mann-Zimmer ist gemütlich, alles neuwertig und sauber. Ich nehme eine sehr lange und sehr heiße Dusche, springe in die Nachtwäsche und werfe mich aufs Bett. Ich habe nicht vor, mich heute nochmal zu bewegen. Überall im Zimmer verteilt hängt unsere nasse Wäsche zum trocknen, unsere Taschen nehmen einen Großteil des Eingangsbereiches ein. Noch sind wir allein, und je mehr sich die Uhr der 18. Stunde nähert, um so mehr steigen unsere Chancen, dass wir allein bleiben und alles so belassen können wie es ist. Als Till auch wieder aufgetaut ist, packen wir Toast mit Mayo und Tuna aus. Kein Festmahl, aber an dem Abend tut es uns unsagbar gut!

Am folgenden Morgen hat es -2°C und leichten Regen. Die Beine wollen nicht recht, wie wir Ihnen befehlen, doch treten letztendlich nach ein paar Mal Wecker wieder ausstellen den Dienst an. Heute liegen weitere 1000 Höhenmeter bis zum Lukmanierpass vor uns. Der Beginn des Aufstiegs fällt uns schwer, viele Tunnel und Baustellen machen es uns schwer. Doch der Verkehr ist sehr ruhig und kaum Grund sich zu fürchten. Wir steigen durch grüne Wiesen mit unzähligen Bergbächen auf, die teilweise als kleine Wasserfälle von den Felsen stürzen. Tannen säumen die Wiesen. Dann werden die Bäume kleiner, nur noch buschartig und die Szenerie geht in eine Flechtenlandschaft über.

Aufstieg auf den Lukmanier-Pass
eisüberzogene Felsen
Auf dem Lukmanier-Pass

Insgesamt ist der Anstieg flacher und monoton erfüllen die Beine und Räder ihren Job. Am Mittag überholen uns zwei frisch aussehende E-biker, kurz bevor wir durchgeschwitzt den Pass erreichen. Auf dem Pass ist heute gutes Wetter, kein Schneesturm, doch eine große, laute Baustelle mit Presslufthammern auf der Straße. So ist auch hier keine große Verweilstimmung und wir treten die 1700 m überkommende Abfahrt an. Die Nadelbäume nehmen zu, werden dichter, es wird grüner und die Sonne lacht uns, als wir ins Tessin einfahren. Kleine Dörfer mit engen Straßen und Kopfsteinpflaster ziehen bei der Abfahrt an uns vorbei, der italienischsprachige Teil der Schweiz kommt uns tatsächlich gleich ein bisschen wie Italien vor. Auf halber Strecke machen wir eine Mittagspause, wärmen uns und packen die Regenausrüstung weg. Hier wartet der Sommer, Italien wir kommen!

Esel im Tessin
Hier wartet der Sommer auf uns
Italien, wir kommen

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