Auf dem Stand von ‚Nichts genaues weiß man nicht‘ blieb die Kommunikation mit Rotor, bis wir unsere Hosts Jared und Katie in Relyovo, Bulgarien verlassen. Ein bisschen wehmütig brechen wir auf, können nichts dafür und dagegen tun. In die Richtung von Plowdiw führt uns zunächst eine schmale asphaltierten Straße, die uns mit ein paar zusätzlichen Höhenmetern durch Wald und ruhige Dörfer geleitet. Danach folgt eine Abfahrt über grandiose 1000 Höhenmeter in die tiefer gelegene Ebene und bringt uns schon bald auf eine furchtbare Hauptstraße, laut und verkehrsreich. Neben der Straße wird über lange Distanz gebaut, so dass wir konstant vom aufgewirbelten Dreck eingestaubt werden. Da es in der Ebene deutlich wärmer ist als im Gebirge zuvor, bleibt dieser auch wunderbar an unserem Schweiß haften. Die tollen Berge tauschen wir gegen eine monotone, ereignislose, flache Landschaft. Wir tauschen schneebedeckte Kuppen gegen Störche, Mücken und Mückenstiche… so viele Mückenstiche. Für nachts einmal Pippi gewinnt man einen am Kopf und einen am Arm. Doch wir wollten ja den Balkan hinter uns lassen und die Fahrt durch flaches Land.
Nach einer Nacht am Rande eines Feldes voll mit Sonnenblumen, die uns am Morgen freundlich grüßen, fahren wir die verbleibenden 32 km in die Stadt vor Eintreten des Hauptverkehrs. Nun kommt der positive Teil der Hauptstraße: auf flacher Strecke und aalglattem Asphalt fährt es sich wie auf einem Highway. Noch vor 09:00 erreichen wir Plowdiw und müssen uns sogar noch eine Stunde bis zur Öffnung des Bikeshops bei einem Kaffee vertreiben. Hmmm, Kaffee. Vielen Dank erneut, an die wohltätigen Spender auf unserer Seite! 🙂 Der Halt an dem Café hat sich auf jeden Fall gelohnt, wir sind beglückt, munter und voll Energie, der anschließende Stopp an dem Fahrradladen ist allerdings nicht so gewinnbringend: wir hatten auf eine Dynamolampe spekuliert, doch ein derartiger Artikel ist auch hier gänzlich unverbreitet. Dafür ist der anschließende Stopp bei Decathlon erfolgreicher: ich finde Fahrradhandschuhe (hatte nur noch einen) in der Gewichtheberabteilung, eine Schirmmütze gegen tränende Augen von tiefstehender Morgensonne und eine Stirnlampe als Notlösung für Licht im Tunnel.
Dann machen wir uns auf die Suche nach unserem Hostel. Die Adresse ist sehr zentral gelegen, doch von außen ist kein Hinweis auf ein Hostel zu erkennen. Till steigt die Treppenstufen im Hauseingang bei der angegebenen Hausnummer hinauf. Ein Barbier in der zweiten Etage, mehr ist da nicht. Er fragt halt mal beim Barbier nach. Mit der Schere in der einen und der Rasierklinge in der anderen Hand erklärt der Friseur, dass er hier richtig sei, nach einem Telefonat mit dem Inhaber überreicht er Schlüssel zu Zimmer Nr. 6. Die Zimmer seien oben drüber. Wir steigen also die Etage hinauf, nichts erinnert an ein Hostel. Gemeinschaftsbereiche fehlen weitgehend, in der Küche gibt es zwar Schränke, doch ohne Inhalt. Gut, nicht so schlimm, es ist nur für eine Nacht und wir haben ja Campinggeschirr dabei, damit können wir leben. Das Zimmer selbst ist etwas schmuddelig, Flecken auf den Lacken, man sinkt bis auf die Federn des Lattenrostes durch, wenn man sich auf die Matratze setzt oder legt. Gut, auch damit können wir irgendwie leben (Isomatte auf die Matratze). Doch womit wir nicht klar kommen, ist die Toilette, die man vor Exkrementen kaum erkennen kann. Auf eine Nachricht an den Besitzer erhalten wir keine Antwort. Und meine Blase drückt langsam. Wir sind noch immer im Ekel-Schockzustand, als die Polizei an unsere Türe klopft. Sie suchen einen Mieter, wir haben ihn nicht gesehen und können nicht helfen. Doch bei der Befragung aller Personen der vorhandenen Zimmer bekommen wir mit, dass die lautstark telefonierende Dame im Nebenzimmer die Putzfrau ist. Wir sprechen sie auf den Zustand der Toiletten an. Ja, sie teile sich den Job mit einer Kollegin, die sollte bald kommen, sie muss in einer Stunde los und die Kollegin wird dann putzen. Fassungslos. In einer Stunde könnte sie in dir Toilette auf Hochglanz polieren. Theoretisch. Die Kollegin wird erst in der Nacht nach 22:00 kommen und dann tatsächlichen putzen. Wer hält es denn so lange ohne Toilettengang aus? Bis dahin hat Till eine der Toiletten mit den Putzutensilien, die er in der Küche findet, selbst begehbar gemacht. Ich habe einen tollen Mann, und das Hostel nun auf der booking-Seite eine schlechte Bewertung.
Man kann immer mal daneben greifen und so lassen wir uns von der Ekelerfahrung nicht abschrecken, wir starten zu einem Spaziergang durch die Stadt. Zunächst spricht sie uns wenig an, Klimaanlagen tropfen Kondenswasser auf unsere Arme, während wir den Gehsteig entlang laufen, breite Touri-Shopping-Fußgängerzone mit Geschäften wie in jeder europäischen Großstadt. Dann lockt uns Musik von Weitem an, wir folgen dem Klang und finden eine Show mit traditioneller Musik und Tanz, dahinter Ausgrabungen und den Aufstieg über Kopfsteinpflaster in das alte Plowdiw. Die Wiedergeburtshäuser, das Amphitheater und die engen Gassen versprühen ihren Charme und haben uns bald in ihrem Bann gezogen. Der Blick auf die unter uns gelegene Stadt und drei der Hügel, auf denen die Stadt gebaut ist, verzaubern uns. Wir können nun nachvollziehen, warum Plowdiw 2019 zur Kulturhauptstadt Europas gekürt wurde.
Auf dem Heimweg kann ich mich trotz wenig Begeisterung auf Tills Seite, dazu durchsetzen, eine Melone mitzunehmen. Wenn es auch nicht viel in der Küche gibt, ein Kühlschrank ist vorhanden, und über die Eismelone (serviert mit Fetakäse) wird auch er zum Frühstück am nächsten Tag dankbar sein. Dankbar bin ich schon heute, dass er sie zum Hostel trägt. Sie sah eigentlich unter all den Melonen ganz klein aus. Doch die Waage zeigt beim Bezahlen 5,5 kg an!
Während wir den Weg zurück zum Hostel einschlagen, kündigen dunkle Wolken und Wind einen bevorstehenden Regenguss an. Mit jedem Schritt wird es dunkler, zum Schluss laufen wir im Stechschritt durch die Unterführung und die letzten Meter auf der Straße. In der Sekunde, in der wir zur Türe hineintreten, setzt der Regen ein. Und was für einer. Es prasselt nur so auf unser Dachfenster. Ein heftiger Sturm lässt die Zweige eines Baumes gegen die Fenster schlagen. Gewitter gesellt sich zur Stimmung eines schottischen Krimis und aus dem vermeintlichen Schauer wird ein Regen, der die gesamte Nacht andauern wird. Nun sind wir ehrlich gesagt doch froh, über das Schmuddelhostel-Dach über unserem Kopf und darüber, dass wir den Sturm nicht im Zelt ausharren müssen. Wir bleiben trocken, unser Gepäck auch, und unsere Räder auch. Die haben wir mit ins Zimmer geholt. Auch wenn sie etwas schmutzig sind, fällt das doch hier überhaupt nicht auf, dachten wir uns. So freuen wir uns beim Abendessen bestehend aus Keksen und Schokolade darüber, dass alles sicher bei uns ist. Ja, das Radreiseleben lehrt einen viel und hat definitiv seine tollen Seiten: man weiß ein Schmuddelhostel zu schätzen und kann Süßkram zu Abend essen und es sich schön reden mit: „es gab nichts anderes.“ 😉
Wir verlassen am folgende Morgen Plowdiw. Die Wege sind mit Ästen übersät, die der Sturm heruntergerissen hat. Und auch mit den Reifenfetzen, die an den Straßenrand geschleudert werden, wenn die LKWs diese bis zum Platzen fahren (das hat nichts mit dem Sturm zu tun, ist immer so). Auf der letzten Reise hat uns das freiwerdende Stahlgeflecht viele Flicken gekostet. Bislang haben wir mit unseren tubeless-Reifen noch keine Platten. Wir sind begeistert.
Weiter folgen wir der hässlichen, vielbefahrenen Hauptstraße. Wir versuchen einmal einen Umweg über eine laut meiner Karte kleinere Straße, um dem Verkehrslärm zu entkommen. Doch die ist genau so befahren, Dimitrowgrad eine reine Industriestadt, grau und unsäglich uneinladend und außer ein paar zusätzlichen Kilometern haben wir nichts gewonnen. Jared hatte uns bereits davor gewarnt, und auch eine Alternativroute vorgeschlagen. Diese würde uns nach Plowdiw erneut 1800 Höhenmeter nach oben in die Berge führen. Uff. Wir denken wirklich darüber nach, aber der Anstieg spricht deutlich dagegen, nachdem wir doch das Ende der Berge schon gefeiert haben (mit Wein!). Wir beschließen, nun an ursprünglichen Plan festzuhalten und die drei Tage durchzuziehen.
Das Land ist flach und ereignislos. Felder mit Sonnenblumen und Wein sind unsere Highlights. Jede Stadt glänzt mit abgewohnten Plattenbauten sowie verwahrlosten Parks, die sicher in der Zeit der Sowjetunion ansehnlich waren, aber mit dem Fall letzterer ungepflegt blieben und ebenfalls verfallen. Wir stellen am Abend fest, dass wir bereits am folgenden Tag dir Grenze erreichen könnten. Allerdings mussten wir coronabedingt ein Einreiseformular ausfüllen und auf dem haben wir eben den 05.07.2021 angegeben. Genau einen Tag zuvor sind viele Corona-Einschränkungen in der Türkei gefallen, doch von dem Wegfall des Formulars war nirgends die Rede. Ich möchte nicht zu nah an der EU-Außengrenze campen, daher beschließen wir, es nicht darauf ankommen zu lassen.
Bevor sich unser Tag dem Ende neigt, finden wir in Brod neben unzähligen Fastfood-shops (Burger scheint das Nationalgericht zu sein) einen Minimarkt, darin Eiscreme! Das hellt meine Stimmung ungemein auf und auch die nette Ansammlung von Bäumen hinter dem Ort, etwas abseits der Straße, die uns ein geschütztes und ruhiges Plätzchen für das Zelt bieten, entschädigen doch für die anstrengende Fahrt des Tages. Nicht körperlich anstrengend, nicht fahrtechnisch anstrengend, aber mental. Manchmal ist das die größte Herausforderung: der Lärm und der Verkehr, dadurch steigt der Stresspegel und wir motzen uns nur noch an. Dazu kommt noch die immer klarer werdende Gewissheit darüber, dass das mit dem Versand der Ersatzteile von Rotor innerhalb der EU nix mehr wird. Till findet auf der Internetseite, dass es auch einen türkischen Vertrieb gibt. Er fragt an, ob der Versand der Teile nicht an diesen übergeben werden kann, dann erspart man sich den zusätzlichen Import und Zoll, und Zeit. Der deutsche Vertrieb übergibt damit das Anliegen wieder an die Hauptfirma. Die meldet sich auf unsere täglich einflatternden E-Mails wieder nicht. Es ist aber auch zum Verzweifeln.
Der nächste Tag beginnt mit einer ausgelaufenen Packung Bohnen-Tomaten-Soße, nun als Soßenflecken, in unserer Vorratstasche. Aber wir haben ja nur wenig Kilometer vor uns und damit genügend Zeit zum Reinigen. Die Straße ist am Morgen überraschend ruhig, das tut gut. Bereits nach 20 Kilometern machen wir eine lange Frühstückspause in einem Park in Hamalı, die nahtlos in eine Mittagspause übergeht. Es gibt einen Lidl, es gibt viel Zeit zu verleben, und so beobachten wir die Kinder, die die Eltern erziehen (es ist wie überall) während wir unser Zelt am Klettergerüst trocknen. Wir fahren am Nachmittag noch 20 Kilometer, bevor wir ein verlassenes Gelände als Nachtplatz auswählen. Till will in dem alten Gebäude nächtigen, doch da grusel ich mich. Am Rande bei ein paar Bäumen finden wir dann doch einen Platz, mit dem wir beide zufrieden sind. Wer uns kennt, weiß, dass wir trotz ausgiebigem Frühstück und Mittag aufs Abendessen nicht verzichten: es gibt Brot mit Auberginen- und Bohnenaufstrich.
Als wir schon im Zelt liegen, hören wir Männerstimmen. Ich grusel mich trotz gutem Platz nun doch ein bisschen, aber der einsetzende Regen ist auf unserer Seite und lässt alle Stimmen verstummen. Und wir haben… trotzdem keine ruhige Nacht. Eine Mücke hat es in unser Zelt geschafft und surrt des Nachts um unsere Köpfe. Ich finde sie mit Taschenlampen-App einfach nicht. Ich ziehe das Schlafsack-Inlet ganz weit nach oben, so dass alle Körperstellen bedeckt sind. Anscheinend habe ich alles gut verpackt, nur mit einem Finger obenauf das Inlet vorm Verrutschen geschützt. Und den erwischt sie. Er ist am Morgen ganz dick und völlig zerstochen. Aber das vergeht. Nicht so der nun defekte Reißverschluss am Außenzelt, der einer nächtlichen Öffnungsaktion im Dunkeln mit voller Blase, zwischenzeitlichem Einklemmen des Zeltstoffes und einem gewaltigen Ruck nicht standhalten konnte.
Dann ist es soweit, ich freue mich sehr darauf, wieder in die Türkei einzureisen. Till ist noch skeptisch, hat er doch an den letzten Aufenthalt hauptsächlich Erinnerung an Liegen im Bett: mit einem Infekt und nach einem Unfall. Doch ich bin hochmotiviert, dass sich das ändern wird, auch der Abkürzung, die Komoot uns schicken will, stimme ich fröhlich zu. Zwar kündigt der fehlende Asphalt eine langsame Fahrt an, aber es sind nur zwei Kilometer Umfahrung der Hauptstraße. Schließlich überrascht es mich dann aber doch, als die Straße zum Pfad wird, immer mehr mit Sand und Matsch auftrumpft. Zwar steigen wir beizeiten ab und schieben, doch irgendwas mache ich falsch. Till wählt eindeutig die besseren Stellen zwischen den tiefen Matschlöchern hindurch. Mein Rad ist bald mit Schlamm überzogen, zwischen Reifen und Schutzblech hat sich so viel Schlamm gesammelt, dass ich es schon bald kaum noch vorwärts bewegen kann. Als die Piste endlich endet und wieder auf die Straße führt, muss ich erstmal putzen. D.h. mit einem Stock die Verstopfungen lösen, die Bremsen freikratzen und die Schaltbox unter einer grauen Schicht an Schmodder wieder finden.
Dann führt uns die ruhige Straße tatsächlichen nach Kapitän Andreevo, der letzten Siedlung vor der Grenze. Dicke Schlamm Batzen fliegen noch immer auf jedem Meter von meinem Hinterrad zur Seite weg. Ich war mir ja nicht sicher, ob wir den zweitgrößten Grenzübergang der Welt wirklich ohne das Fahren auf dem Asian Highway erreichen können. Zwar müssen wir noch auf einem Brett über einen Graben und dann etwas Trampelpfad hinter einer Leitplanke entlang schieben, doch danach stehen wir kurz vor der Grenze. Die Ausreise geht schnell, unzählige Spuren verteilen die vielen Fahrzeuge auf die Grenzhäuschen. Der Beamte ist sehr freundlich und meint, er habe uns am Morgen in Swilengrad beim Bäcker schon gesehen. Überraschenderweise ist er gar nicht sauer, obwohl er wegen mir warten musste, bis ich häppchenweise all unser Restgeld ganz passend zu gefüllten Brötchen und Börek umgesetzt habe. Ich lächel ihm etwas verlegen zu, ja, Radfahrer haben immer viel Hunger, ja, das haben wir beide tatsächlich alles verdrückt. Dann sind wir draußen. Tschüssi EU. Wenn auch ohne neue Kurbel, es ist doch ein gutes Gefühl, es bis hierher geschafft zu haben.
Das gute Gefühl vergeht mir gleich im nächsten Moment, als ich sehe, dass sich hier fünf Spuren PKW, dazu Busse, allein für die Einreise von EU-Bürgern zu einer Spur vereinigen und sich Massen an Autos vor uns aufstauen. Es ist ein wildes Gehupe, nichts bewegt sich und soweit ich schauen kann Blech. Das wird Stunden dauern! Wir stehen in der nicht endenden Schlange inmitten der Abgase auf dem heißen Asphalt in der Sonne und schauen benommen über die bis zum Horizont reichenden Metalldächer der Vehikel hinweg.
Na wenigstens gefällt es Euch in der Türkei fast so gut wie zu Hause. Aber die die Balkanländer sind schon speziell und wir wissen doch recht wenig über ihre Geschichte. Alle guten Wünsche für Euch und paßt gut auf Euch auf.
Ihr Lieben,
Die Türkei ist ein tolles Land und die gezwungenermaßen verlängerte Verweilzeit bereuen wir nicht, nur die Hosen spannen vom guten Essen und vom allgegenwärtigen süßen Tee 🤭 Fühlt euch gedrückt! Beste Grüße, Till und Janine