Camino de Santiago: die Pilgerroute und ihre Herausforderungen

Als wir in Pamplona ankommen und die angestrebte Herberge geschlossen hat, machen wir erst einmal eine Pause und checken unsere Optionen. Zum Glück ist von den ‚Snacks‘, die wir über die Pyrenäen gezogen haben, noch der ein oder andere Stimmungsaufheller übrig und hilft beim Denken. Es gibt eine weitere Herberge mit einem riesigen Schlafsaal – eher nichts für uns. Fürs Campen wird die Nacht zu kalt. Aber Pamplona hat zum Glück nicht nur Pilgertouristen, und damit auch normale Hotels, und nachdem wir das Loch im Mantel an Tills Fahrrad geflickt haben (wir bedeutet Till flickt und ich bespaße das Baby) und das Tretlager provisorisch für die nächsten 100 Kilometer beschwichtigt haben, machen wir uns zu einem eben dieser auf. Wir sind froh, dass wir uns heute Nacht hier unter die warme Decke huschen können. Das heißt unter das Laken. In ganz Spanien gibt es keine Bettdecken, sondern zum Zudecken nur ein Bettlaken plus eine kratzige Hundedecke für kalte Nächte. Seltsam, ein Geknöddel an Stoff, aber warm.

Hier mussten wir mit dem Fahrrad durch…

Am folgenden Tag steht unsere erste echte spanische Etappe an. Die Höhen der Pyrenäen haben wir zwar überwunden, aber durch die Ausläufer ist es noch hügelig, teilweise sehr steil. Die Landschaft erinnert mich mit ihren gelben schroffen Hügeln und Feldern an Jordanien (fehlen nur die Schafe, die von Hirten auf Eseln über die Stoppeln getrieben werden). Es herrscht ordentlich Gegenwind. Till ist bei der Frühstückspause ganz demotiviert von der kurzen Strecke, die wir bis dahin erst zurückgelegt haben. Gut, als David wieder müde und es Zeit zum Weiterfahren ist, beschließen wir, auf der zweiten Etappe stärker gegen den Wind anzutreten, damit wir ein Stückel vorankommen.

Soweit die Theorie. Wir kommen einen Kilometer, dann reißt das Schaltseil. Hier in den Gebirgsausläufern mit Hänger ohne Gangschaltung – keine Chance, so können wir nicht weiter, das muss an Ort und Stelle erst repariert werden. David ist noch nicht eingeschlafen und so nehme ich ihn wieder aus dem Hänger. „Hallo Baby, alles ein großer Spaß und wir spielen jetzt noch ein bisschen“. Wir gehen ein paar Meter weiter Stöckchen und Steinchen inspizieren. Hinter einem Gebüsch sehe ich nur ab und zu Till hervorstechen, nämlich dann, wenn er sich ärgert, dass es nicht unkompliziert funktioniert.

Unkompliziert ist nur mein braves Baby! Er wartet eine ganze Stunde mit mir, bis das Seil repariert ist, um dann in seinem Hänger in einen schönen Schlaf geschaukelt zu werden. Die schaukelnde Fahrt bringt uns am Ende des Tages in ein kleines Dorf mit nur einer kleinen Pilgerherberge. Hier sind noch Betten im 6-Mann-Schlafsaal frei und sie nehmen uns mit Baby auf. Wir spielen beim Essenkochen mit den Kochlöffeln und auf dem Balkon bis zum Sonnenuntergang (heute wieder keine Mücken, wir sind überwältigt). Dann huschen wir in den Schlafsaal, Till schläft im Doppelstockbett oben, David und ich unten. Wir haben ein Bett an der Wand bekommen, so dass er nicht rausfallen kann. Ich bin gespannt, ob wir am folgenden Morgen entnervte Pilger meckernd gegen uns haben.

Da kann man echt nicht meckern: David macht sich so gut, schläft abends schnell ein und macht des Nachts nur leise deutlich, dass er trinken will, dann schläft er weiter – trotz der Schnarcher im Raum. Mein Pilgerbaby.

Die Räumlichkeiten der Pilgerherberge müssen wir auch hier um 08:00 verlassen. Also Baby aus dem Bett nehmen, Katzenwäsche, dann schnell beim Treppenuntersteigen in den warmen Anzug gepackt, und raus. Heute haben wir Glück: es gibt ein Café im Erdgeschoss, das für die Pilger Frühstück anbietet. So trinken wir dort noch einen Kaffee, bis das Baby wieder schläfrig ist und auch die Temperaturen höher sind. Es machen hier viele Pilger Halt, das Café wird rappelvoll – und so wird es auch die Pilgerherberge am Ende dieses Tages in Los Arcos, die wir trotz hügeligem Terrain um 14:15 mit der zweiten Fahretappe nach 35 km erreichen! Wir stehen lange in der Warteschlange an (das heißt Till steht an und ich spiele mit dem Baby im Gras mit den Blättern) und können hier einen Platz für unser Zelt im Garten ergattern. Mit 4 € p.P. ein echtes Schnäppchen und für uns auch angenehmer allein im Zelt, als im großen Dormitory mit 40 Betten.

Großer Schlafsaal und große Herberge: es geht hier recht laut zu, eher wie in einer Jugendherberge (mit Bier im Bierautomat für 1 €) und es gibt wenig eigentliche christliche Umgebung, obwohl es doch eine dedizierte Pilgerherberge ist. Wir hatten das anders erwartet, weniger touristisch.

Doch die Touristen lieben David, und ihm gefällt’s; er ist der Liebling der Herberge. Er klatscht zur Musik, schäkert mit den Mädels und findet hier eine Freundin aus Moldawien – sie singt und tanzt mit ihm, hält seine Händchen während er auf dem Tisch steht und auf und ab wippt. 🥰 Sind im Heimatland die Menschen eher reserviert und ein Baby nicht überall erwünscht, so reißen hier die Leute meist die Hände hoch, rufen laut „Hola bebé!“ und dann passiert es auch schon Mal, dass eine fremde Muttl ankommt, und dein Baby küsst. An die Spanische Manier muss man sich als Deutscher erst gewöhnen. Nach Corona ist man da ja irgendwie geschädigt, doch Till meint gelassen: „Hey, das ist bestimmt gut fürs Immunsystem.“

Abhärtung (oder Herausforderung?) fürs Immunsystem sind auch die Nächte: diese wird mit 8°C wieder sehr kühl. Am Morgen husche ich mit David im Schlafsack steckend und in Decken gehüllt schnell nach drinnen, um ihn dort im Warmen zu waschen und anzuziehen (und mich auch natürlich, nur ich ohne Schlafsack). Till baut in der Zeit noch im Halbdunkel das Zelt ab, denn auch hier müssen wir um 08.00 Uhr draußen sein. Haben wir in Frankreich noch jeden Schatten gesucht, so suchen wir nun die wärmende Sonne am Morgen auf einem kleinen Spielplatz, bis wir gegen 10.00 Uhr abfahrbereit sind.

Wir fahren auf einer ruhigen Straße, direkt neben uns führt in diesen Tagen ein Schotterweg für die Fußpilger, daneben läuft die Autobahn entlang – ein bisschen idyllischer und besinnlicher hatte ich es mir ja schon vorgestellt. Da ist es gar nicht so leicht, sich selbst zu finden, dafür finden wir aber die gleichen Leute am Tagesende oft wieder. Sie brechen vor uns auf, und dann sehen wir sie unterwegs und am Abend in der nächsten Herberge wieder. So zum Beispiel zwei Däninnen, die sich freuen uns wieder zu sehen (sie halten uns für inspirierend). Ich muss wieder an den Belgier in unserer ersten Herberge in Frankreich denken, der uns inspiriert hat. Das 06.00-Uhr-Aufbrechen, das wir damals für unglaublich diszipliniert hielten, scheinen die meisten so zu praktizieren, um in der nächsten Pilgerherberge bereits am Mittag einchecken zu können, da sonst alles belegt ist.

Für die nächsten zwei Tage ist uns die Belegung aber egal. Es ist Regen gemeldet, daher haben wir ein Zimmer in einer Pension gebucht. Wir kommen von Navarra in die Rioja Gegend und überall sehen wir Trauben an den Reben und Traktoren mit Hängern von denen die Trauben hängen. Es steht im Hof der Pension eine große Schüssel mit Rioja-Trauben vom eigenen Feld und es gibt ein langes Dach, unter dem wir sitzen und spielen können, auch wenn es nieselt. Dazu jede Menge Spielzeug – was für ein Volltreffer! Die Pension hat selbst eine kleine Tochter und die ‚Oma‘ ist ganz vernarrt in David. Sie steckt David beim Abendessen (das wir draußen einnehmen, denn wenn David mitisst, kann man sonst danach neu tapezieren) Trauben in den Mund, schnell ist er auf den zuckersüßen Geschmack gekommen, will nun selber mitmachen, zupft sich die Trauben von der Rispe, quiekt vor Freude und steckt sich eine nach der anderen in den Mund. Die Oma freut sich – ich sterbe tausend Tode (mit Schale und im Ganzen? Erstickungsgefahr!!😱) Doch dem Baby gefällt und schmeckt es!

Weniger schmackhaft sind die Wetteraussichten: regnerisch ist der komplette nächste Tag bei max. 14°C, und so soll es auch die folgenden Tage weiter gehen. Es ist Ende September und bleibt kalt, wir steigen wieder höher ins Gebirge auf, da werden auch die Nächte immer kälter. Daher überlegen wir wirklich, ob da Zelten noch eine Option für uns ist. Doch als Alternative bleibt uns nur der ‚Run‘ um Unterkünfte mit den Pilgern, die alles günstige weit im Voraus wegbuchen. Ist das wirklich das richtige für uns? Sich Tage im Voraus für Distanzen festzulegen, mit teils anspruchsvollen Etappen und schnell wechselndem Wetter, das kann ganz schön anstrengend werden und nimmt uns viel Flexibilität, die wir mit ‚Freiheit‘ verbinden. Zusätzlich ich finde es furchtbar, die anderen Pilger als Konkurrenten zu sehen. Das will ich nicht, ertappe mich aber immer wieder dabei, wenn sie in den langen Pausen an uns vorbei ziehen. Ich stecke in einem Motivationstief.

Wir haben uns trotz demotivierendem Wetter zur Besichtigung von einem alten Kloster entscheiden. Tropfnass kommen wir an, nutzen die Pause eher zum Trocknen und Unterstellen als zur Besichtigung und steuern dann (erneut nass) ein Hotel mit sehr schlechten Bewertungen an. Doch es liegt in erreichbarer Entfernung und ist verhältnismäßig günstig, unsere Ansprüche sind nicht hoch – was kann schon passieren? Es kann schimmlig sein, niemand zum Check-in da, kein Baby oder keine Räder erlaubt und wir müssen im Regen am Abend wieder fahren… na viel kann passieren. Doch wir werden positiv überrascht, alles ist annehmbar sauber, wenn auch etwas abgewohnt, und zur Verabschiedung gibt es im Hof noch kleine Kätzchen. David jauchzt und krabbelt ihnen hinterher. 🤗 Als eine davon Till am Hosenbein hinaufklettert, hört für ihn der Spaß auf und wir packen das Baby so warm ein, wie wir können, dann geht es los.

Es ist zwar kalt, aber entgegen der Prognosen regnet es heute nicht, da können wir die Frühstückspause gut auf einem Spielplatz verbringen. Hier ist zwar viel nass, aber rutschen und wippen und schaukeln geht. Die Regenfreiheit bekommt uns gut, macht uns vielleicht etwas überschwänglich. Eigentlich hatten wir Villa Franca als Tagesziel anvisiert. Das kleine Dorf liegt am Fuße des Iberischen Gebirges. Hier machen fast alle Pilger vor dem Aufstieg ins Gebirge Halt und es gibt viele Herbergen. Kurz vorm Erreichen des Dorfes überholen wir (ja, so herum!) zwei Österreicher (jawohl, die waren langsamer als wir!) und dann passiert es irgendwie, dass wir einfach durch die Örtlichkeit hindurch radeln, nicht anhalten und spontan entscheiden, noch übers Gebirge zu fahren. Ein Anstieg von 400 Höhenmeter auf 1140 m liegt vor uns. Hier gibt es wieder Wald und Bäume. Mit einer Pause bei der Hälfte bewältigen wir die euphorisch gewählte Etappe. Die letzten Kilometer brausen wir den Berg wieder hinunter, und erreichen das nächste Dorf, Atapuerco, gegen 17.00. Wir freuen uns über die hinter uns liegende Strecke, doch die Freude nimmt ab, als wir feststellen müssen, dass hier nun alle vier Herbergen ausgebucht sind. Auch möchte uns die Dame der städtischen Herberge im Garten mit perfektem Campingrasen nicht zelten lassen. Es würde zu kalt werden, ist ihre Begründung. Doch ohne Alternative hilft sie uns damit nicht, im Gegenteil.

Es geht auch wieder bergauf

Sie telefoniert etwas herum und macht in einer privaten Vermietung ein Zimmer im nächsten Dorf ausfindig. 55 Euro – das ist viel Geld. Aber wir willigen alternativlos ein und verbringen immerhin die Nacht warm und trocken.

Der Eurovelo führt uns am Folgetag über eine trockene, sandige, gewaltige Schotterpiste (wo soll zwischen den Felsbrocken der Weg sein?) durch eine Hochebene nach Burgos. Trotz der Kälte kommen wir beim Schieben über den bergigen Abschnitt ins Schwitzen, der Himmel ist grau und die karge Landschaft mit nur wenigen Büschen wirkt dadurch trist. Doch immerhin schaffen wir es für unsere Rast bis zu einem Spielplatz in der Stadt, auf dem uns der Wind bald hinweg zieht. Daher freuen wir uns auf ein warmes Hotelzimmer, das Till zu einem günstigen Preis gefunden hat. Als die Zeit für den Check-in ran ist, radeln wir freudig zum Hotel.

Der Hotelier spricht nur spanisch, will auch kein Englisch verstehen. Hatte er deshalb nicht auf unsere Anfrage zu den Fahrrädern geantwortet? Mit all meinen aufgeschnappten Brocken Spanisch (und Händen und Füßen) frage ich ihn nach der Vorstellung, wo wir die Fahrräder abstellen können. Er schaut nach draußen, zeigt auf den Hänger und dann verstehe ich: „Nein, das ist unmöglich, ich solle die Buchung stornieren!“ 🤔Was? Verdattert wende ich mich um und gehe nach draußen; dort bitte ich Till noch einmal darum, nach drinnen zu gehen, ich verstehe da nur, ich solle stornieren. Till wird schon kaum noch hineingelassen, der Mann will ihn gleich an der Tür abwimmeln. Er versucht noch zu erklären, dass man den Hänger abkoppeln und zusammenfalten kann, wie einen Kinderwagen für das Baby, für das wir mit gebucht haben. Nützt alles nix, er schlägt uns die Tür vor der Nase zu, wir sollen stornieren. Durch Asien, Australien, Ost- und Westeuropa hat sich bislang immer eine Möglichkeit zum Parken der Fahrräder gefunden. Doch hier nicht? Ganz klar, der Hotelier will uns einfach nicht. Diskutieren zwecklos.

Till klickt sich durch die Booking-Optionen, hin und her. Und tatsächlich, er schafft es, die Buchung kostenfrei zu stornieren. Puh. Soweit so gut. Und nun? Burgos ist groß und ein weiteres Hotel in der Nähe ist zu finden – aber die kurzfristige Buchung reißt erneut ein Loch in der Reisekasse. Doch hier erwartet uns das komplette Gegenteil. Obwohl wir zehn Minuten nach der Buchung an der Rezeption stehen, werden wir sehr freundlich empfangen, uns wird sofort ein Babybett ins Zimmer gebracht und ein Platz in der Garage für die Fahrräder angeboten. Das Zimmer ist warm, groß, so dass David hier viel Krabbeln kann – und das Bettchen nehmen wir zum Guck-guck spielen😁 Er lacht so laut dabei, und trotz ablehnender Erfahrung vorher wir tun es nun auch.

Die Kathedrale von Burgos

Am folgenden Morgen trotzen wir den 7°C mit einem Lächeln, denn endlich scheint wieder die Sonne und vor uns liegen nun einige flache Etappen in der Hochebene! Endlich flach! Dicke Handschuhe an, und los geht es über Holperwege zwischen gelben abgeernteten Feldern hinweg. Heute laufen der Radweg und der Fußweg für alle Pilger gleich. Bis halb 10 müssen wir uns einen Weg zwischen hunderten Pilgern hindurch klingeln. Am Mittag sind schon weniger als die Hälfte unterwegs, und wir passieren bereits die ersten Schilder zu vollen Herbergen. Nach 16.00, als wir zur dritten Tour aufbrechen, ist kaum noch ein Pilger unterwegs. Doch heute können wir die letzte Etappe ganz gelassen angehen, denn wir hatten bereits ein Hostel gebucht und das ist für uns heute gut erreichbar. Ab morgen soll es starken Gegenwind geben, da wird das mit dem Abschätzen der erreichbaren Unterkunft schon schwerer.

Pilger zu Fuß und zu Rad nehmen den gleichen Weg
Entlang des Pilgerweges

Diese Nacht ist schwer: David ist ständig wach. Was hat er nur? Zahnschmerzen? Bauchschmerzen? Geträumt? Wegen wenig Schlaf und der kalten Temperaturen von 5°C gönnen wir uns daher noch einen Kaffee im Hostal bevor wir starten. In der Ebene zieht der Wind heute heftig über die abgemähten Felder, lässt die Nase laufen und zieht die Tränenflüssigkeit als Tropfen aus den Augen. Dabei fühlen sich die max. 18°C viel kälter an. Wir sind froh, dass wir uns für heute nur 30 km vorgenommen haben (Dafür morgen 40 km, da vorher nix zu bekommen war.) Auf der ersten Etappe fahren wir unter Einsatz all unserer Kräfte ganze 21 km, da wir vorher kein Dorf passieren und das zugige Stoppelfeld definitiv kein Platz ist, um dort zwei Stunden zu verbringen! Obwohl wir ganz schön aus der Puste sind, sind wir dankbar über die Pause, die wir in einem warmen Café zubringen können. Hier ist David der Liebling aller, viele wollen ein Foto mit uns schießen. Mit der zweiten kürzeren Etappe erreichen wir dann trotz des Windes ein Hotel. Es ist wieder ein guter Teil der Reisekasse, der hier davon macht, aber auch diese Nacht soll deutlich unter 10°C werden (es ist eine Phase, bestimmt ist es bald wieder warm, so hoffe ich).

Den Nachmittag können wir schon mal im geschützten Innenhof und Garten verbringen, in dem es sich gleich wärmer anfühlt. Das ist so angenehm nach der Fahrt bei heftigem Wind. Mittlerweile ist schon richtig Herbst, mit gelben Blättern am Ahorn und gefallenen Kastanien auf dem Boden. Unser Zimmer ist kalt, das Wasser in der Dusche ist kalt. Zu unserem Entzücken gibt es einen Heizkörper, aber er geht nicht. Also stecken wir uns zusammen unter die Laken und trotzen kuschelnd der kühlen Nacht.

Bei der Kälte und dem Wind musste es so kommen. Ich erwache am nächsten Morgen mit einer heftigen Erkältung. Das Baby erschrickt sich jedes Mal und fängt an zu weinen, wenn ich husten oder schniefen muss. Doch es zählt nichts, auch heute geht es weiter durch Regen und Kälte. Ich hatte mir die Fahrt in der Ebene ja als leichtes Zwischenstück zum Ausruhen vorgestellt, doch hier müssen wir erneut auf einem langen Stück Schotter gegen den Wind ankämpfen. Am Nachmittag machen wir den letzten Halt an einer Albergue mit Café. Das Gebäude schützt uns von drei Seiten vor dem Wind, während wir rasten kommt sogar kurz die Sonne raus und wir treffen dort auf ein weiteres Paar mit kleinem Kind. Für David ist es toll, jemanden zum Spielen zu haben, für uns wirkt die Rast in der ruhigen Umgebung nach dem Sturm und die wärmenden Strahlen wie eine Oase.

In eine Oase laufen wir auch am nächsten Tag ein. Nach zwei harten Tagen wollen wir heute nur einen kurzen Tag machen. Da wir damit bereits am frühen Nachmittag nach einer Unterkunft schauen können, haben wir nichts vorgebucht. Wir versuchen es bei einem kleinen Haus, vor dem ein Schild mit ‚Casa del Sol‘ steht, und Sonnenblumen am Eingang grüßen. Mit Marisa strahlt uns auch im Haus die Sonne entgegen. Sie ist eine unglaublich sympathische Dame, die ihre zwei Zimmer mit Leidenschaft vermietet, ihre Gäste umsorgt und sich noch an jeden einzelnen mit Namen erinnert.

Ihr zehnjähriger Sohn José ist ebenfalls da und spielt mit David während wir den Check-in machen. Im einen Moment spielt David noch schön, dann fängt er an zu ningeln und zu weinen. Ich nehme ich hoch, doch er weint, wie noch nie zuvor. Was hat er nur? Er hängt auf mir wie Häufchen Elend. Er tut mir so leid. Mir ist ebenfalls gleich nach heulen.

Marisa ist in diesen Stunden Gold wert. Sie nimmt ihr Schild für die Vermietung des 2. Zimmers im Haus rein, damit wir heute ungestört bleiben können, sie macht uns Abendessen, lässt uns ein Bad ein, bietet uns an, uns zum Arzt zu fahren, wenn es nicht besser wird und so lange zu bleiben, wie wir wollen. Keine Sorge wegen der Bezahlung, meint sie.

Sorgen machen wir uns erst einmal wegen des Fiebers, das David bekommt. Wir haben ein paar Paracetamol-Zäpfchen in Neugeborenen-Dosierung dabei; pro Dosis müssten wir zwei verabreichen – nicht ideal, aber wir versuchen es. Das erste Zäpfchen zerfließt noch in unserer Hand bevor wir es an Ort und Stelle verbringen können, das zweite zerbricht beim Entblistern. So schmelzen unsere spärlichen Vorräte dahin, das Wochenende liegt vor uns und die nächste Apotheke ist 20 km entfernt. Was machen wir nun?

Der Camino wäre nicht der Camino, wenn er nicht mit jedem einen Engel schicken würden. Unser Engel ist Marisa. Sie zaubert aus den Reserven für ihren (nun zu großen) Sohn einen Fiebersaft hervor. Sie ist wirklich unbezahlbar! Nun hoffen wir auf Besserung.

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Mutti
1 Jahr zuvor

Wieder sehr abenteuerlich euer Bericht. Da kann man wiedermal sagen: „und wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her“. Danke das ihr euch die Zeit nehmt und uns an eurer Reise teilhaben lasst.♥️😘

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