Als wir Özkent hinter uns lassen, wird es wieder bergiger und wir klettern aufwärts. Noch immer herrscht Gegenwind. Da kommt uns auf einem 500-m-Aufstieg eine kleine Teebude am Straßenrand gerade recht. Wir trinken einen Çay mit viel Zucker. Eigentlich viel zu süß, aber irgendwie auch genau das, was wir an diesem Morgen brauchen. Der Verkäufer ist unaufdringlich ambitioniert und lässt uns von seiner Spezialität kosten: einem mit einer dicken, graugrünen Schicht überzogenen Schimmelhartkäse. Erst fürchte ich mich ein wenig vor dem haarigen Gesellen, doch dann probieren wir: Geschmacklich erinnert er an Gorgonzola, die Konsistenz gleicht aber eher der von Krümmelkäse. Er ist lecker und wir nehmen davon mit. Wahrscheinlich lassen wir hier zu viel Geld, aber es hat uns gut getan und dafür haben sich die 5 € für uns gelohnt, und das zählt, redet Till mir zu/ein.
Die erste Station auf unserer umgeplanten Route à la Arif nach Kappadokien ist der Tuz Gölü, ein großer Salzsee. Wir haben entdeckt, dass auf der Karte mitten über den See eine schmale Straße führt. Die wollen wir fahren! Wir nähern uns langsam bei kräftigem Wind, bis zuletzt sind wir uns nicht sicher, ob See und die Straße tatsächlich existieren. Der See führt wenig Wasser, so dass man ihn tatsächlich erst zu Gesicht bekommt, wenn man die ihn umgebenden Hügel hinab rollt. Er ist nicht nur Hauptabbaugebiet für den Salzbedarf des Landes, auch ist er Futter-, Brut- und Aufzuchtstätte für Flamingos. Jedes Jahr kommen Tausende der Zugvögel hier vorbei. Dieses Jahr jedoch verstarb der Nachwuchs dieser Population der türkischen Rosaflamingos weitestgehend aufgrund von Wassermangel, haben wir gelesen, nachdem wegen der Dürre zur Bewässerung der Felder die Zuflüsse abgezweigt wurden. Ein einziges einsames Tier sehen wir bei der Überfahrt. Es ist so traurig. Seine Farbe ist nicht rosa, sondern grau, das bedeutet, dass er nicht genug Krebse zum Fressen gefunden hat. Das unterstreicht seine triste Lage noch.
Weinenden Auges lassen wie den Salzsee hinter uns. Und das nicht nur im übertragenen Sinne. Der Wind bläst nach wie vor stark, dazu kommen schlechte Straßen, auf denen die vorbeifahrenden Autos viel Staub aufwirbeln. Als ich nach einer Rast vom Haarewaschen (Wasser aus nahe gelegener Quelle) zurück komme, reibt sich Till das Auge. Er hat wohl etwas Staub abbekommt und nun drückt und brennt es, und er reibt und drückt dagegen, in Hoffnung auf Linderung. Vom Reiben ist das Auge schon ganz gerötet und gereizt. Ich möchte im Auge nach einem Fremdkörper sehen, aber er kann es kaum eine Sekunde offenhalten. Es ist schwierig, zwischen den Augenschlägen spähe ich hinein, kann aber nichts darin finden, was da nicht hingehört. Es tränt und sticht, irgendwann fahren wir trotzdem weiter, vielleicht vergeht es ja. In Ortaköy halten wir bei Adi im Garten Mittagsrast. Der ältere Herr hat uns von der Straße aus zu sich herein gewunken und uns seine Veranda zum Pausieren angeboten. Ein kurzer Schlaf, ich hoffe, dass dieser Till gut tut und sich das Auge erholt. Doch es ist auch danach nicht besser. An der nächsten größeren Kreuzung schlägt Till mit tränendem Auge vor, weiter Richtung Aksaray zu fahren (nächst größere Stadt mit Aussicht auf ärztliche Behandlung), doch das ist nicht unsere Richtung. Ich rufe einen Stopp aus. Es macht keinen Sinn, so können wir einfach nicht fahren, egal in welche Richtung. Entweder ist es morgen besser, oder wir müssen mit einem Bus (oder ähnlichem) zu einem Arzt. Die 44 km über sehr hügeliges Land schaffen wir mit dem Auge auch morgen zu Rad nicht. Mit dieser Abmachung und antientzündlichen Augentropfen halten wir an dem nebengelegenen Stinkebach, ruhen mit abgedecktem Auge zum Schutz vor Wind und Staub und Reiz durch Licht aus. Der Mond scheint nachts wie ein Scheinwerfer.
Am Morgen frage ich: „Und, was macht das Auge?“ Till: „Besser, aber nicht gut.“ Hm, was soll diese Aussage bedeuten? Als wir auf die Kreuzung hochschieben, weiß ich immer noch nicht, für welche Variante das nun spricht. „Welche Richtung?“ frage ich. „Die geplante Route.“
Gut, so fahren wir also auf einsamen Nebenstraßen Richtung Ihlara-Tal. Der Wind pfeift weiter. Am Nachmittag wird er stärker, es zieht von einer Sekunde auf die nächste ein richtiger Sturm auf und treibt den Staub über Felder und Straßen. Schnell radeln wir in die nahegelegene Stadt und finden hier zu unserem Erstaunen Schutz in einer alten Karawanserei. Heute ist sie ausgebaut und wird für Veranstaltungen genutzt. Trotzdem bleibt der schützende Charakter für uns an diesem Tag spürbar und man kann sich gut vorstellen, wie erleichtert die Karawanen waren, als sie diesen Platz als Quartier für die Nacht vor vielen Jahren erreicht hatten. Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit einer Karawane lag damals wohl bei 4 km/h. Da können wir uns mit den Rädern doch heute nicht beklagen. Über die Hügel, Dörfer und Felder sind wir zwar langsam, doch bei einem Tee erinnert uns der Einladende, Oktay, in einem dieser Dörfchen (wenn man Dorf verniedlicht, kommt man dann bei diesen Ansammlungen von 10 Häusern raus?) an das Besondere dieser Situation: es entschleunigt. Das findet man nur auf den langen, einsamen Straßen zwischen den Städten.
Auf einer dieser kleinen Straßen passieren wir zwischen den Feldern einen Schäfer mit zwei Hunden. Zumeist haben die Schäfer ihre Wachtiere sehr gut unter Kontrolle. Aber eben nicht immer. Und dieser Schäfer gehört zu letzterer Kategorie. Die beiden großen Tiere kommen bellend und geifernd auf uns zu gerannt, den Verteidigungsreflex kann man auf ihren Stirnen aufblitzen sehen. Waaahhh! In dem Moment setzt ein eben heranfahrender Truck zum Überholen an, bremst neben uns auf der Gegenspur bis auf Null ab, wartet, und schützt uns so vor den Hunden. Wir brauchen einen Moment, um die Situation zu verstehen, doch der Lastwagenfahrer hat sie von seiner erhöhten Position aus wohl gleich überblickt. Nun also wieder: der Laster ist unser Freund! Wir grüßen und winken. Diesmal freuen wir uns über sein Hupen, als er kurz darauf an uns vorbei fährt.
Sehr entschleunigt scheint auch der türkische Zoll zu sein. Er hat unser Paket noch immer nicht frei gegeben, es liegt unverändert in Istanbul. Nur noch 2 Tage, bis wir Zentralkappadokien erreichen. Doch zunächst biegen wir ins Ihlara-Tal ein, eine lange Schlucht, die urplötzlich in das vulkanische Gestein geschnitten zu sein scheint. Wir blicken hinab in den Canyon, auf den Fluss und das umliegende Grün. Ein beeindruckender Einschnitt.
Zum Thema Einschnitt passend, fährt Till wohl mit seinem Vorderrad über eine Scherbe, der Vorderreifen zischt, es sprudelt viel Dichtmilch aus dem Schlauchlos-Reifen-System. Schafft es die Dichtmilch, das Loch zu verschließen? Es zischt weiter. Schafft sie es nicht? Wir halten und schauen auf die Blasen. Es ist unser erstes Loch (das wir mitbekommen), sind uns unsicher, was genau wir unternehmen sollen. Wir befürchten zu viel Luftverlust und dass der Reifen neu auf die Felge aufgesprengt werden müsse. Also holt Till das Stopfequipment heraus. Es sieht aus wie eine dünne Rolle von Plastelina, die mit einer Fonduegabel in das Loch gesteckt werden muss. Till fädelt die Knetmasse auf, drohet dem Reifen mit der Wurst… und dann ist Stille. Nun hat es die Dichtmilch doch ohne Hilfe geschafft. War das nun ein Platten? Wie definiert sich Platten? Wir hatten ein Loch, mussten aber nicht flicken!?
Passend dazu möchte ich an meinem Vorderreifen am Morgen Luft aufpumpen, beim Abdrehen der Ventilkappe, drehe ich wohl auch am Ventil selbst (vielleicht biege ich versehentlich auch ein bissl) breche die Dichtung des Ventils mit raus, Dichtmilch sprudelt am Ventil vorbei, in Sekunden ist alle Luft draußen und der Reifen platt. Tills Auge wird jeden Tag ein wenig besser, so beschaut er die Angelegenheit (nicht ohne Murren), kann das Ventil reparieren, pumpt Luft auf und wir können weiter. Soll ich das nun in unsere Plattenstatistik eintragen? Es war zwar Luft raus, aber kein Loch?!
Heute möchten wir zunächst Kizil kilise besichtigen. Die Rote Kirche ist eine frühbyzantinische Kirche aus dem 5. – 6. Jahrhundert und eines der ältesten freistehenden Gotteshäuser Kappadokiens. Wenn auch heute teilweise zerfallen so geht doch noch immer eine Anziehung von ihr aus und sie ergreift uns sehr, die 600 Höhenmeter Aufstieg zu ihr bereuen wir nicht. Anschließend fahren wir den Berg bis Derinkuyu wieder hinunter und schauen uns die Undergroundcity an. Auf acht Ebenen wurde hier ein großer Komplex in den Sandstein gegraben, vermutlich um eine ganze Stadt vor Feinden zu schützen. Vorräte wurden eingelagert, Luft- und Kommunikationsschächte errichtet, es ist mehr als beeindruckend.
Der Tag endet kurz hinter Derinkuyu. An einer Tankstelle fragen wir, ob wir dort campen können: ja, kein Problem, im Hinterhof können wir geschützt das Zelt aufstellen. Als Anerkennung wollen wir noch einen Çay im angegliederten Restaurant trinken, den lässt uns der Besitzer aber nicht bezahlen. Später bringt uns der Tankstellenmitarbeiter mit einem Strahlen im Gesicht zwei Çiğ köfte Dürüm – er teilt sein Abendessen mit uns! Was soll ich sagen, eine weitere Geschichte für das mehrbändige Buch.
Nun heißt es für uns aber: auf, ins Herz von Kappadokien. Auf dem Weg durchqueren wir Gore und können hier bereits die ersten in Stein geschlagenen Wohnungen sehen. In Uçhisar halten wir an einem beeindruckenden Felsen mit Höhlenwohnungen. Beim Pausieren checken wir erneut die Sendeverfolgung: das Paket mit den Ersatzteilen ist unverändert im Zoll in Istanbul. Immer wieder verfolgen wir den Status, doch es tut sich einfach nichts. Nun heißt es für uns: Abwarten. Tag um Tag warten wir und bestaunen dabei die wunderbare Gegend: das Pigeon Valley mit seinen wie vom Zuckerbäcker gegossenen Felsen, und Höhlenwohnungen darin. Wir wandern und spazieren rund um Göreme, ins Liebestal, ins weiße Tal, zur Zisternen Kirche und Karabulut Kirche im Zilm valley, ins Rose Valley, zum Sonnenuntergang über dem Red Valley. Natürlich beschauen wir jeden Morgen bei Sonnenaufgang die Heißluftballons, die zu Hunderten über dem Tal aufsteigen, und lassen uns die gute türkische Küche schmecken. Ohne Radfahren ist Schmeckenlassen ganz schön gefährlich! „Ich muss echt bald Diät machen“ meine ich zu Till.
Und das, obwohl wir Warten und nicht Radeln -> Wir müssen langsam wirklich einen Diätplan aufstellen!
Dann bewegt sich etwa: der Zoll hat die Zollgebühr ermittelt! Gut, wir sind gleich ganz aufgeregt und wollen die 25 € Zollgebühr so schnell es geht zahlen. Ein Klick auf den falschen Knopf, dann ist der Link abgelaufen, dann sieht es so aus, als könne man nicht erneut aus der E-Mail den Zahlungslink aufrufen, dann funktioniert die App der Bank nicht richtig. Mit etwas Schweiß auf der Stirn schaffen wir es am Ende aber doch noch 😉 Den gesamten Tag verfolgen wir den Paketstatus. Keine Änderung online. Dann ‚Wird verladen‘. Unsere Kontaktperson Arif bemüht sich mit vielen Anrufen. Er findet heraus, dass das Paket auf dem Weg nach Nevşehir ist, nein nach Avanos. Avanos hat gar keine Paketstation. Laut Google aber schon. Ach ja, es gibt eine, aber der zuständige Beamte ist heute nicht da und es hat geschlossen. „Ahhh!“ Über drei Tage ist es ein einziges hin und her. Es ist zum Mäuse melken. Sollen wir nun den Aufenthalt im Hotel noch verlängern? Wann kann es weiter gehen? Der Freitag (=Feiertag) steht vor der Tür und da passiert dann auch bloß wieder nichts. Am Donnerstag Nachmittag dann geschieht das Wunder: ich weiß nicht wie und woher, doch 16:00 steht Arif plötzlich vor dem Hotel – und hat das ersehnte Paket in der Hand! Wir checken schnell, es ist alles drin, die richtigen Teile, in doppelter Anzahl für beide Räder! Wir machen Freudensprünge. Danke, Wolfgang vom ACS-Versand!
Wieschafftihrdasbloß ?
Tretlager zerstören, Ventile abbrechen … müsst ihr mir irgendwann mal erklären wie das
geht. Und dann läuft auch noch Milch aus den Reifen…
Tolle Fotos ! Kostet Göreme jetzt auch Eintritt ?
Grüße von Onkel Klaus