In der Nacht vom 27. auf den 28. April 2021 schlafen wir schlecht. Wie wird Till die Impfung vertragen? Wird er sich gut fühlen und sich damit vielleicht überschätzen? Natürlich, wir sind froh und dankbar, dass er die 2. Impfung nun erhalten konnte; überhaupt, dass die Impfsache nun vor der Abreise für uns beide durch ist und uns hoffentlich damit an der ein oder anderen Grenze eine Einreisehilfe sein wird. Wir wissen, wie privilegiert wir sind. Trotzdem, in dieser Nacht hindert ein ungutes Gefühl uns daran, Schlaf zu finden. Vielleicht auch Aufregung? Spannung? Sorge (die Räder verbringen ihre erste Nacht außerhalb der geschützten vier Wände, im Keller, der von unzähligen Einbrüchen im letzten Jahr heimgesucht wurde – vielleicht ist ein ganz anderer Grund Startverzögerer)? Oder ein Mix aus all dem?
Der Morgen bricht heran, bereits vor 07:00 hält es uns nicht mehr im Bett. Die Sonne steht strahlend am Himmel, kaum ein Wölkchen ist zu sehen. Noch ist es mit 3°C frisch, aber das Thermometer soll auf 17°C steigen – perfektes Radfahrwetter! „Na, wie geht es dir?“ frage ich Till. Guten Morgen habe ich glatt vergessen. „Gut“ kommt als Antwort. „Merkste irgendwas?“ „Nö“. Ein Grinsen macht sich auf unseren Gesichtern breit. Damit ist es beschlossene Sache: Start. Heute. Zwei Jahre Radreise liegen vor uns und wir fühlen uns auch diesmal nicht viel mehr vorbereitet als vor der letzten Abreise 2017. Andere Länder und Kontinente, andere Räder, und dann ist da noch die Sache mit dem unliebsamen C-wort. Wahrscheinlich macht es letzterer Umstand nicht viel einfacher, und dennoch, das Reisefieber hat uns gepackt und wir würden es wohl bereuen, wenn wir es nicht zumindest versuchen. Entdeckung der Landschaft und Natur mit Rad und Zelt ist weitestgehend kontaktlos möglich, was uns angeht, sogar mit viel weniger Kontakten als im ‚normalen‘ Leben. Bei notwendigen Kontakten z.B. beim Einkaufen tragen wir Masken, halten Abstand und uns an die Regeln. Und damit fühlen wir den Vorwurf Vieler von ‚Reisen in diesen Zeiten sei unverantwortlich‘ als nicht gerechtfertigt. Und an diesem Morgen beschäftigt uns das Gerede gar nicht.
Jeder von uns widmet sich also den letzten Vorbereitungen: Putzen, Packen, letzte Schrauben anziehen, nochmal Umpacken, wieder Auspacken, Roberts lange Unterhose muss mit! -> wieder einpacken (ich habe sie von Host Robert, ein Mann wie ein Schrank, im Australischen Winter geschenkt bekommen, die Geschichten dazu könnt ihr hier nachlesen: https://2zimmer-fernweh-rad.de/), noch ein Paket mit Sachen, die nicht mitkönnen, an Mutti schicken. Immer noch zu viel, die Taschen sind bis zum Bersten gefüllt. ‚Wir sollten das doch mittlerweile kennen‘ mag der ein oder andere an dieser Stelle mutmaßen. Doch wir sind mit kleineren Taschen unterwegs, Probepacken hat nicht stattgefunden, und die 2 kg Äpfel, die vor drei Tagen bei Aldi im Angebot waren, beanspruchen unerwartet viel Platz. Das will erst einmal geübt und untergebracht sein. Wir einigen uns darauf, es nun so erst einmal zu belassen und beim Halt bei meiner Familie eine weitere Ausmisterunde anzuschließen. Bis 11:00 beschäftigen uns die letzten Dinge, dann ist es soweit, wir ziehen die Tür hinter uns zu, Schlüssel bleibt drin für unsere Zwischenmieterin. Und es geht los.
Den Weg aus Leipzig Richtung Süden kennen wir in- und auswendig, trotzdem fühlt es sich auf den neuen Rädern zunächst sehr ungewohnt an, fast ein bisschen unheimlich. Die Lenkerposition, die Reifen, Schaltung, es fährt sich ein bisschen wie auf Eiern. Doch es wird mit jedem Kilometer besser, schon außerhalb der Stadt muss ich zum Anfahren nicht mehr mit einem Fuß anschieben und erst Geschwindigkeit aufnehmen, bevor ich wackelig Aufsitzen kann.
Der Weg führt uns wie gewohnt an der Pleiße entlang, gleich kommt die vermaledeite Stelle, an der Till bei der Testfahrt vor einer Woche den ersten Schaltzug gerissen, ein paar Schrauben hier im Gras versenkt und das Tretlager sich verabschiedet hat. Aber diesmal kommen wir ohne Zwischenfall an ihr vorbei. Wir Radeln die flache Strecke durch uns bekannte Dörfer und über kleine Seitenstraßen, die Sonne lacht uns, die ersten Kilometer liegen hinter uns. Dann ein verdächtiges Rasseln – das neue Tretlager macht schon wieder Geräusche. Da ist doch der Wurm drin. „Das ist unmöglich! Keine 50 Kilometer?!“ Till ist der Verzweiflung nahe. Er prüft immer wieder und stellt dann fest, dass erneut der Fahrradmonteur aus dem Radladen die zugehörige Schraube nicht korrekt angezogen hat. Diesmal eine andere als bei der Testfahrt. Er hatte das Rad extra (beide Male) zum ‚Fachmann‘ für den Einbau gebracht, weil er selbst keinen Schlüssel besitzt, der das notwendige (und sehr wichtige) Drehmoment anzeigen kann. Nach ein bisschen Ärgern zieht er die lockere Schraube mit der Ratsche nach. Fest. Knack. Ab. Sie ist in zwei Teile gebrochen. Nicht weniger Ärgernis als zuvor.
Man kann so weiterfahren, ohne Vorspannung, meint Till, er muss eben aller 10 Kilometer die dicke Schraube in der Kurbel (sicher gibt es dafür einen Fachterminus, na ich oute mich hier als nicht-vom-Fach) nachziehen, nicht schön, aber es geht. Wir müssen nur das abgebrochene Teil entfernen und eine neue Schraube auftreiben. Ersteres gelingt uns zum Glück mühelos, und nun beginnt die Odyssee um die Schraube. An diesem Tag können wir kein passendes Teil auftreiben, genießen aber einen wunderschönen Abend bei der Familie (erster Teil). Nur ein Haushalt. Das Abschiednehmen wird sich noch über 5 Tage hinziehen, weil man ja nicht alle an einen Tisch holen kann, sondern sorgfältig nacheinander verabschieden muss.
Die Nacht gibt es Regen, doch wir liegen warm und trocken, bis wir gefrühstückt haben, hat der Regen innegehalten und wir starten bei 11°C ins Sächsische Bergland. Zwar liegen nur 56 km vor uns, doch am Ende sind wir ganz froh darüber, dass es nicht weiter ist. „Mei, sind wir unfit“ stellen wir fest. Wir haben das Radfahren aber auch ordentlich vernachlässigt in den vergangenen Monaten. Faulheit? Winter? Wir schieben es auf das C-Wort! Das liegt doch gerade in allen Bereichen im Trend 😉
Im Vogtland angekommen schließen sich unzählige Besuche von Fahrradläden, Modellbahnfachleuten und ähnlichem an. Wir drehen etliche Kilometer suchend durchs Oberland. Freunde, Nachbarn, flüchtige Bekannte werden kontaktiert, die Ohrmuschel glüht vom Telefonieren. Doch keiner hat eine passende Schraube. Am Abend hat meine Schwester die zündende Idee: sie schaltet einen WhatsApp-Status-Aufruf nach der Schraube. Gefühlt sucht daraufhin das halbe Vogtland in Kellern und Garagen nach der Schraube. Es melden sich im Laufe der nächsten Tage eine Vielzahl an hilfsbereiten Mitbürgern, die etwas anbieten – und so können wir mit einem passenden Ersatzteil die Heimat verlassen. Wir danken allen Helfern und insbesondere Lars für eine Schraube, fast schöner als das Original.
Wie bereits 2017 starten wir nach der Verabschiedungsrunde am 03. Mai vom Vogtland aus in Richtung Süden. Diesmal auf einer anderen Route, da die Durchfahrt durch die Tschechische Republik derzeit C-Wort-bedingt nicht erlaubt ist. Dies beschert uns auf einem Abstecher nordwestlich nicht nur einige extra Kilometer, vielmehr einige extra Höhenmeter durch das Fichtelgebirge. Keine unsäglichen Höhen, aber dafür konstant und unaufhörlich; schon nach 50 km bin ich ziemlich platt und sehne den ‚Feierabend‘ herbei.
Dann führt uns unsere Route auf den Brückenradweg, der einer ehemaligen Eisenbahntrasse folgt. Es ist herrlich, im wärmenden Sonnenlicht an dem Fluss Selb entlang, und nur mit moderaten Steigungen, das erste Mal am heutigen Tag gibt es ein flaches Stück Weg. So bringen wir noch 20 km hinter uns, bevor wir in ein Wäldchen abbiegen und dort unser Zelt aufbauen. Es ist noch früh am Abend. Die Temperaturen sind zwar im Laufe des Tages von morgendlichen 2°C auf 10°C geklettert, aber als die Sonne hinter den Bäumen verschwindet, wird es deutlich frischer. Wir finden ein schönes geschütztes Plätzchen zwischen den Fichtenbäumen und beschließen entgegen unserer Gewohnheit, früher als sonst (nämlich gleich) das Zelt aufzubauen. Nach ein bisschen Räumen und Gebummel ist mir doch ordentlich kalt geworden, frierend schlüpfe ich auf direktem Wege in den Schlafsack. Es dauert eine ganze Weile (es fühlt sich an wie Stunden!), erst zwei, fünf, sieben, dann sind alle zehn Zehen wieder zu spüren 🙂 aber nochmal gehe ich nicht raus, keine Chance. Kein Abendessen, auch Zähneputzen muss heute der Kälte geschuldet ausfallen.
Überhaupt habe ich an diesem Abend Bedenken, dass ich auf Grund von Frieren das Zelt und den Schlafsack wohl nie wieder verlassen kann. Doch in der Nacht bleibt es in unserem CAMP Minima warm, am Morgen scheint aller Prognosen zum Trotz die Sonne und es ist wärmer (zumindest gefühlt) als am Abend zuvor. So verlassen wir entgegen meiner Befürchtung gegen 08:00 doch das Zelt und holen das Zähneputzen nach, doppelt so lange wie sonst, man muss schließlich den versäumten Abend wieder rausholen. Zusätzlich motivierend für das Aufstehen ist das warme Wasser zum Putzen und Waschen, das wir vom Vortag Dank der super isolierenden Thermosflasche mit von-Mutti-genähtem-Überzug noch haben. Wir drehen mit gepackten Rädern eine Ehrenrunde im Kreis durch den Wald und schon sind wir zurück auf dem Radweg.
Der Radtag startet damit, dass das Navi alle Daten vergessen hat (Login für das Programm, Karten, Route; wir finden nicht raus wieso). So versuchen wir an diesem Tag über das Handy unsere Route zu finden, die Ehrenrunden mehren sich. Die erste Stadt heißt Wampen – na das passt ja zu unserem körperlichen Zustand. Der Wind bläst uns kräftig entgegen, aber die ersten beiden Stunden beschweren wir uns (noch) nicht darüber. Vielleicht beklagen wir ein bisschen die vielen Höhenmeter (das mit der Fitness ist noch nicht besser geworden). Bei den vielen Bergen muss man ständig schalten. Irgendwie fällt mir das schwer, da ich mit meinen ungeübten Fingern (das hat man nun davon, wenn man sich immer von jemandem das Gurkenglas aufdrehen lässt) die Schaltung schwer bedienen kann. Till kann das wiederum schwer glauben und will es selbst probieren. Er ist überzeugt davon, dass es ganz einfach geht. Und drückt. Kleiner Ruck, große Wirkung: das Schaltseil ist rausgerissen. Eigentlich geht das gar nicht, die Schaltung soll nach Erreichen des letzten Ganges überspringen, und nicht das Seil aus der Befestigung reißen. Nun, in der Realität ist aber eben einer von uns zu schwach, um die Schaltung zu bedienen, und einer zu stark. Das Seil, nun lose baumelnd, muss gewechselt werden, Till versucht viel an Rädchen zu drehen und einzustellen, kann aber leider nichts am Finger-Schaltungs-Dilemma ändern. Na zum Glück wird mir nach der Zwangsfahrpause bei der nächsten Bergetappe wieder warm. Der Wind dreht gegen Mittag richtig auf. Mit 80 km/h zieht Sturmtief Eugen markant auf uns zu und sorgt dafür, dass wir mit etwa 8 km/h vorankommen. Der vor einem liegende Berg schützt uns nun beim Anstieg nicht mehr vor dem Gegenwind, bergab muss man Treten und sich bemühen, den Lenker nicht unter den Böen zu verreißen. Länger als 30 Minuten ohne Halt schaffen wir es nicht, meine Arme sind schon ganz wabbelig. Das Käsebrot, das ich noch aus der Mutti`schen Küche im Gepäck habe (Abendbrot musste ja wegen Angst vorm Erfrieren ausfallen), stärkt zwar kurzzeitig für die nächsten Kilometer, aber der Eugen fordert uns sehr. Wetter-App sagt ab dem Nachmittag für die folgenden vier Tage Sturm voraus (natürlich Gegenwind), Dauerregen und nur einstellige Temperaturen. Das klingt alles andere als verlockend. Es fühlt sich zwar ein bisschen nach Schönwetter-Radler an und ich habe ein schlechtes Gewissen mir selbst gegenüber, aber am Ende müssen wir uns nicht lange überreden. Mit wenigen Worten sind wir uns einig („Guck mal, es gäbe eine erschwingliche Bleibe in der Nähe.“ „Los, buchen!“) den Eugen auszusitzen. Privat mieten wir uns in eine kleine Einliegerwohnung ein (kontaktlos, mit E-Mail-Wegbeschreibung zu Schlüssel und Tür). Wir haben heute nur 46 km auf dem Buckel, aber in den Beinen fühlt es sich nach 80 km an. Mindestens. Als später der Regen einsetzt freuen wir uns wie die Könige über unsere Entscheidung.
Hallöchen , Ihr Weltenbummler, ich fühle mit Euch, wenn kl. Pannen und das Wetter gegen einen arbeiten, da freut man sich, wenn man ankommt. Ich bin gespannt auf die nächste kl. Story. Viel Spass weiterhin und von mir einen Daumen hoch.
Passt auf Euch auf!
Ganz liebe Grüße Silke Zuniga
Liebe Silke,
schön, dass du mit uns reist und unsere kleinen Herausforderungen des Radreise-Alltags dich von den Herausforderungen des Alltages, denen du dich täglich stellen musst, ein bisschen entführen können. Es ist doch schon auch eine Erfahrung, wie sehr man von Dingen wie Wind und Wetter, von denen man bei der Arbeit sonst gar nichts mitbekommt, abhängig ist. Da kann man doch plötzlich ganz anders wertschätzen, wenn man am Morgen durch den Warmluftschleier am Eingang schreitet und froh sein, dass der Arbeitgeber die Stromrechnung bezahlt 😉 Wir senden ganz liebe Grüße in die Heimat.
Janine und Till