Es ist Anfang August, hochsommerlich warm, die Pferde stehen auf den Koppeln und viele Felder sind schon abgeerntet, als wir uns der deutsch-niederländischen Grenze nähern. Unsere letzte Nacht in Deutschland verbringen wir mit der sechsköpfigen warmshowers-Familie Haring – was für ein Erlebnis. Für David gibt es eine große Anzahl an Spielsachen, Spielkameraden und eine Gastschwester im Teenageralter, die als tolle Babysitterin fungiert. Alles ist so spannend, dass David tagsüber trotz Wärme wenig trinkt und das letzte Schläfchen auslässt. Um 20.00 Uhr reiße ich ihn quasi von den gewonnenen Geschwistern los und es geht nicht ohne überdrehte Tränen ins Bett, doch er ist so müde, dass er schnell einschläft, und sich in den ersten Nachtstunden alles an Flüssigkeit nachholt, was er am Tag verpasst hat.
So verpasse ich zwar Mal wieder viel Nachtschlaf, doch diesen wirbeligen und schönen Abend möchte ich als Reiseerinnerung nicht missen. Die liebgewonnene Gastfamilie vermissen wir schon, als wir ihnen Adieu winken und die letzten Kilometer zur Grenze fahren. Halt, Deutschland können wir nicht verlassen, ohne noch einmal bei Aldi einzukehren – nach Westen hin wird’s nun nicht günstiger. David liebt Shopping, dabei sitzt er vorn im Einkaufswagen und ist everybody’s darling. Er schäkert mit allen Leuten, lacht sie an und quietscht durch die Gänge. Wenn ich mich bücke, um die Preise in der untersten Reihe zu vergleichen, steht garantiert jemand nach vorn gebeugt vor ihm und schneidet mit ihm Grimassen. Dabei sind Tonlage und Tonfall von sowas wie (nun oktaviert weiterlesen): „Gutschi, gutschi, na du Kleiner, Süßer“ übrigens in jeder Sprache gleich, werden wir feststellen 😅
Mit Windeln und Keksen beladen überqueren wir dann die Grenze ins Nachbarland. Wo genau, können wir bei der grünen Grenze nur auf der Karte erkennen, irgendwo zwischen den Bäumen muss es gewesen sein; hoch lebe Europa. Die ersten Kilometer führen auf einem holprigen Waldpfad an Stacheldraht und Grenztürmen entlang. Ein bisschen komisch fühlt sich die Fahrt entlang dieses an Hochsicherheitstrakt-anmutenden Zauns schon an. Doch dann verschwindet er und macht einer weiten Heidelandschaft mit niedrigen Laubbäumen auf sandigem Terrain Platz. Ein Trail führt uns hindurch und dank der Geländegängigkeit unseres Einradanhängers können wir die Landschaft bei schöner Fahrt auf uns wirken lassen. Dann erreichen wir die erste kleine niederländische Stadt und rasten in einem Wohngebiet auf einer Bank im Schatten eines großen Baumes. Till hält der Hitze wegen erst einmal Siesta und ich knabbere mich mit David durch den Aldi-Proviant.
David matscht beim Essen, das fällt auf dem tadellosen Boden gleich auf – so sauber ist hier alles. Dazu sind die Leute sehr freundlich; wir sind erst zwei Stunden im Land und wurden bereits öfters angesprochen. Von einem Mann, der neben unserem Baum wohnt, bekommen wir sogar kaltes Wasser geschenkt. Auf den leeren Flaschen entdecken wir Symbole, die auf Mehrwegflaschen schließen lassen. Daher googeln wir mal nach ‚Pfandsystem Niederlande‘, und tatsächlich, das Internet bestätigt unsere Vermutung. (meist bin ich ganz gut im Niederländisch-raten, aber bei den Piktogrammen tappe ich im Dunkeln) Also mache ich mich kurz vor unserer Abfahrt noch einmal auf, klingle bei dem Mann, und gebe ihm die Flaschen wieder, damit er sein Pfand zurückerhalten kann. Er lässt mich nicht gehen, ohne uns erneut zwei Flaschen kaltes Wasser mitzugeben. Dieses Mal hat er die Flaschen in Alufolie gewickelt, damit sie länger kalt bleiben. Wie süß, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!
Nun haben wir doch zwei Pfandflaschen im Gepäck. Die Hilfsbereitschaft der Niederländer geht noch weiter. In Valkenburg übernachten wir heute bei einem Warmshowers-Gastgeber, der zwar selbst gerade mit dem Rad auf Tour ist, aber nach unserer Anfrage gleich seinen Nachbarn angeschrieben hat, damit dieser uns rein lässt. Ron entdeckt uns auf der Fahrt durch die Stadt bereits vor unserer Ankunft und weißt uns die letzten Meter vom Roller aus den Weg. Wir danken Jordi gleich nach unserer Ankunft per Telefon für die Organisation, es hat alles super geklappt. Kein Problem meint dieser, wir können auch gerne noch länger bleiben, wenn wir wollen. So nutzen wir die Chance, um Valkenburg zu erkunden, und rasten noch einen Tag. Dabei können wir auch die Pfandflaschen abgeben und eine Kleinigkeit shoppen. Ich nehme ein dunkles Brot mit – herbe Enttäuschung! Es handelt sich nur um ein gefärbtes Toastbrot, kein echtes Brot. Der Weißbrotwahnsinn hat also begonnen und ich muss mir merken: ab jetzt immer den Knautschtest vorm Kauf machen!
Neben dem Einkauf nutzen wir die Zeit auch, um lange überfällige Dinge zu erledigen. Wir entdecken bei Jordi zum Beispiel eine Haarschneidemaschine. Jackpot! Tills Kopf hat es dringend nötig. Butter bei die Fische: gleich wird die Maschine angesetzt und eine neue Frisur gezaubert – soweit das Baby das eben zulässt. 😅 Ich arbeite mich am Hinterkopf und den Seiten entlang, dann fordert David sein Bespassungsprogramm ein. Deckhaar und vorn fehlen, das muss bis zum nächsten Maschinenfund so bleiben.
Till trägt ja eh beim Radfahren Helm, da sieht man auch die Frisur nicht. Und so radeln wir am folgenden Morgen bei Nieselregen weiter westwärts. Alle unsere Taschen sind sehr nass, da die Räder beladen draußen standen, doch über den Tag klart es auf und alles trocknet langsam. Trotz anfänglichem Regen genießen wir die tollen Radwege der Niederlande. Mergelgestein umgibt uns in schönen Formationen, mit Höhlen, Wohnungen und Kirchen, die von Menschenhand vor hunderten von Jahren in das weiche Gestein gehauen wurden. Eine sehr schöne Strecke führt uns durch malerische Dörfer nach Maastricht, und dann sind wir nach etwa 50 Kilometern schon wieder draußen.
Erneut gibt es kein Schild, nur die Linie auf dem Navi, die uns sagt: jetzt seid ihr in Belgien. Die auftauchende Autobahn neben uns, der Verkehr und der Verkehrslärm sind Indikatoren dafür, dass sich das Land geändert hat. Es ist der französischsprachige Teil Belgiens, hier habe ich die Chance, noch vor Frankreich meine rostigen Schulsprachkenntnisse aufzupolieren (habe trotz aller guten Vorsätze vor Reisebeginn nicht geschafft, etwas zu üben) Vom Rad aus rufe ich den Belgiern stolz entgegen: „Bonjour, Bonjour, Bonjour!“
Die weitere Fahrt, zugegeben mit fünf Tagen nicht sehr lange, macht den ersten Eindruck eines verkehrsüberladenen Landes nicht wirklich wett. Entlang des Flussabschnittes der Maas, den wir beradeln, geht es sehr industriell zu. So geben Kieswerke, Industriehäfen und Tagebauten die Szenerie. Vom Eurovelo 3, dem wir ab hier bis nach Spanien folgen wollen, hatten wir mehr Panorama erwartet. Vielleicht bieten ja die Städte mehr Potential für eine ‚Liebe auf den zweiten Blick‘? Wir sind gespannt auf Lüttich – dich für Liebe ist zwischen den alles durchziehenden Baustellen kein Platz. Die arme Stadt wirkt wegen des Baus einer Tram wie zerbombt, überall gibt es Umleitungen, meist mit so engen Kurven, dass es für das Rad-Hänger-Gespann schwer zu bewältigen ist. Es kostet uns lange, um hindurch zu kommen. Kein Host hatte uns in Lüttich zugesagt, daher steht heute Camping an. Der einzige Campingplatz ist eigentlich mit einer Tagesfahrtstrecke von 60 Kilometern zu weit entfernt, hat dazu sehr schlechte Bewertungen und die letzten fünf Kilometer geht es auch noch bergauf. Doch was bleibt uns übrig, als zu pedalieren?
Wir fahren drei lange Touren an diesem Tag, er Maas folgend. Am Ende sind wir ziemlich erschöpft und des Verkehrslärms wegen recht angespannt, doch unser Baby macht das alles super mit. Er schläft brav, wenn wir fahren und ist guter Laune, wenn wir pausieren. Auf dem Platz angekommen, will ich am Empfang weitere Sprachkenntnisse auffrischen. Ich starte mal mit: „Camping?“ ein bisschen „Oui“, „Non“ und „Une nuit“ kann ich noch nachschieben, dann wird es dünn und immer mehr englische Vokabeln mischen sich unter. Doch ich lasse mich nicht verunsichern, bin ich doch vokabelsicher in ‚silent language‘ (Zeichensprache). Und als ich den Preis nicht verstehe, recke ich eben den Kopf über den Tresen, um die Zahl auf dem Bildschirm sehen zu können: 12,50 € gesamt – unerwartet günstig, kein Wunder, dass ich das nicht verstanden habe 😅 Gut, es gibt keine Klobrille, weder Klopapier, noch Seife, nur kaltes Wasser, aber es ist ruhig und taugt uns am Ende dieses Tages völlig.
Mehr als ausreichend für unsere Ansprüche wäre auch der um die Ecke befindliche kleine Dorfladen, den ich auf meiner Karte ausgemacht habe. Noch vorm Zeltaufbau steuere ich dort hin, um unsere Vorräte aufzufüllen, schließlich ist morgen Sonntag und da haben auch hier die Läden geschlossen. Aber der Laden hat wohl am Samstag nicht lange geöffnet, die Eisenrollläden sind heruntergezogen. Das einzige belebte Geschäft in der Dorfnachbarschaft zu dieser Zeit ist eine Eisdiele – okay, dann gibt es zum Abendessen eben Eis. Danach entdecke ich auf dem Zeltplatz noch ein Apfelbäumchen und lese sechs Äpfel auf. Ich liebe Äpfel, mein Überleben am Sonntag ist gesichert. Ich halte meine Ausbeute triumphierend nach oben und rufe „Schatz, ich komme auch ohne Einkauf durch“ Till zieht eine Packung Lakritz aus den eisernen Vorräten seiner Lenkertasche: „Schatz, ich auch“. 😁
Den Sonntag überstehen wir, und auch die den Sonntag einleitende 10°C-kühle Nacht, denn als wir aufstehen, scheint bereits die Sonne und während Till das Zelt abbaut, inspiziere ich mit dem wie ein Seestern verpackten Baby ein Zaunstück in der Sonne. Alles muss angefasst werden. Auf dem Campingplatz haben sich im Laufe des Abends noch fünf weitere Radreisende eingefunden. Bevor wir mit Kind reisten, waren wir der ‚early bird‘: am Morgen sehr schnell beim Zusammenpacken und verließen als Erste den Platz. Heute sind wir stolz darauf, dass nach uns noch ein Radler anwesend ist! Als wir aufbrechen, hat er sein Rad bereits beladen und ist aufbruchbereit. Schnell schnallen wir das Kind im Hänger fest und rennen die Räder schiebend die Einfahrt zur Straße hinauf. ‚Nicht die Letzten!!‘ rufen wir jubelnd und schwingen uns in die Sättel.
Erstaunt und erfreut uns immer wieder, das es so gastfreundliche Menschen gibt. Ich glaube, da müssen wir uns noch eine Scheibe abschneiden. Danke, das ihr uns an euren Abenteuern teilhaben lasst. Ganz liebe Grüße aus der Heimat.