Einen Zahn zulegen – Durch Zentralfrankreich

Was waren wir überrascht, wie angenehm uns der Canal de L’Ourcq von Nordosten nach Paris rein geführt hat – und was sind wir überrascht, wie hässlich es aus der Stadt nun nach Südosten wieder raus geht. Es ist unübersichtlich, laut, die Trucks rauschen neben uns auf einer mehrspurigen Straße entlang, und es ist müllig. Als wir den gröbsten Verkehr und damit Straßenlärm endlich hinter uns haben, rasten wir in einem kleinen Park (wir waren bei Aldi shoppen, es gibt Käsebrot. Hmm… ich liebe Käsebrot… njam.) – doch hier sitzen wir wohl genau in der Einflugschneise zu einem der Flughäfen der Hauptstadt, und hinter uns dröhnt der Lärm eines riesigen Umschlagbahnhofs. Nebenan sind Wohnhäuser – nee, nicht für geschenkt würde ich da wohnen wollen. Die armen Leute.

Wir folgen nun der Seine nach Südosten, der Eurovelo 3 ist hier kaum mehr ausgeschildert und ziemlich holprig. Zum Glück hat es letzte Nacht ein wenig abgekühlt und ist es weniger heiß als an den Tagen davor. Für den heutigen Tag war viel Regen gemeldet, es bleibt aber zumeist wolkig, und wir werden nur auf der letzten Etappe durch ein Waldstück ein wenig nass. Till will sich beeilen, aber ich komme nicht voran vor Krämpfen, weil ich mich überfressen hab. Böses Käsebrot. Der Weg durch den Wald führt uns zu einem kleinen Airbnb-„Studio“ (früher hätten wir Studentenbleibe dazu gesagt, heute heißt es „Studio“), es hat einen süßen Balkon und einen Art Gitter als Raumteiler auf der einen Seite neben dem Bett, das für uns als Rausfallschutz für das Baby fungiert. (Das ist wichtig, David träumt gerade jede Nacht davon, endlich krabbeln zu können und schiebt sich auf alle Viere in die Hündchenstellung und wippt. Das ist so niedlich. Und unbeobachtet im Elternbett riskant) Auf der anderen Bettseite ist das Balkonfenster, durch welches man das Bett beobachten kann. Es ist optimal, um am Abend noch etwas zu zweit draußen zu sitzen, während drin das Baby schläft. Ist? Wäre. Würde das Baby nicht gerade in einem Entwicklungsschub stecken und wäre nicht jede Nacht ständig wach. Jawohl, der nächste Entwicklungsschub steht an, die Nächte sind wieder furchtbar, die Windel läuft wieder jede Nacht aus, Wickeln geht nur noch mit Geschrei, und: Mr. Quengel is back. Wir können beide nach dem Abendessen kaum die Augen offenhalten und sinken halb acht mit dem Baby in die Kissen.

Die Kissen und Decken bleiben heute Nacht trocken. Um 06:00 Uhr haben wir das Kind abgehalten: und einen riesigen Pippi geerntet – den hätte die Windel wieder nicht gehalten. 💪 Yes! (Was das Elternsein doch für Freuden hervorbringt) So starten wir heute den Weg zum nächsten Campingplatz trotz furchtbarer Nacht gut gelaunt zurück in den Wald. Da das letzte Wegstück gestern so schön war (trotz Krämpfen), entscheiden wir uns gegen den Radweg entlang der Küste und für ein erneutes hügeliges Waldstück. Damit fahren wir nicht mehr an die Seine zurück, drehen nun in Richtung Süden, und folgen ab hier einem angenehmen Schotterpfad entlang des Flusses Le Loing und dem zugehörigen Kanal für die Schifffahrt. Ein tolles Wechselspiel: am Fluss plätschert das Wasser über die Steine und der Flusslauf schlängelt sich durch die Landschaft, am Kanal fließt das Wasser langsam, stetig, ruhig und beruhigend dahin. Wir passieren viele Angler. Ein Freund berichtet mir an diesem Tag stolz, dass sein Sohn nun die Angel auswerfen kann. Ich habe mir noch nie über die Fertigkeit zum Auswerfen Gedanken gemacht, habe aber immer Angst, wenn ich einen Angler mit der Route außerhalb des Wassers passiere, gleich einen Haken in der Backe zu haben. Ich habe schon öfters überlegt, wie man diesen im Falle des Falles wohl wieder herausbekommen würde.

Die Angler ziehen ohne Hakenattacke an uns vorbei und wir nähern uns zwei Personen mit Wanderstöcken. Oh, ich bin so aufgeregt. „Sind das die ersten Pilger?“ „Nee“, meint Till, die haben nur ganz spärliches Gepäck, das sind Tagesausflügler. Also heute immer noch keine Pilger auf der Pilgerroute.

Entlang des Pilgerradweges arbeiten wir uns entlang des Kanals Schleuse für Schleuse langsam um 100 Höhenmeter nach oben. Heute fällt es mir sehr schwer. Es fühlt sich an, als müsse ich gegen einen mächtigen Widerstand antreten. Und schon bald stehen die Pyrenäen zur Überquerung an, ich frage mich: „Was soll das nur werden?“  Till fragt: „Was ist denn los? Müssen wir mal wieder Luft aufpumpen?“ und zieht eine Augenbraue hoch. Er drückt meine Reifen und verdreht die Augen. Ja, nach dem Pumpen läuft’s deutlich besser. So sind wir am Tagesende sehr stolz auf die geleisteten Höhenmeter, ohne von der ‚Bergetappe‘ fix und alle zu sein. 😅

Geschafft sind wir am Tagesende nur von unserem Zappelphilipp, der alles erkunden will. Auch Essen will ‚erkundelt‘ werden. Er hat zwar noch keine Zähne, ist aber an allem interessiert, was wir uns in den Mund stecken und will alles probieren. Heute hatte er deshalb bald die Hand im Teller mit den heißen Zucchini, bald den Fuß im Topf mit der Nudelsuppe. Zum Frühstück haben wir im Ort ‚Michel‘ gehalten – an den Namensvetter aus Lönneberga erinnert er mich in diesen Tagen so manchmal. Ähnlich probierfreudig ist er nun auch beim Rutschen auf dem Spielplatz. Er will es allein machen, schaukelt sich dabei oben sitzend so lange nach vorne, bis der Körper der Schwerkraft folgt und losrutscht – mein großer Junge. Ja, und in der Nacht haben wir dann wieder mit Problemen kleiner Jungs zu kämpfen, um 03:00 ist die Windel ausgelaufen.

Über den sachte dahinlaufenden Kanal Le Loing gelangen wir an die Loire. Sie ist deutlich naturbelassener, oft fahren wir auf dem Deich entlang, wo es wenig Schatten gibt. Ab hier laufen der Eurovelo 3 und 6 ein Stück gemeinsam, gleich sind mehr Reiseradler unterwegs. Aber noch immer keine Pilger. Wir sehen unter den Radreisenden keine anderen mit Kindern. Und wenn wir mal welche mit Fahrradanhänger entdecken, dann sitzt ein Hund drin. Auch an der Loire entdecken wir Tiere: wir sehen verschiedene Wasservögel, Ratten und haben kleine Fliegen im Gesicht.

Auf dem flachen Flussradweg fliegen wir an der Loire entlang bis eine riesige Baustelle den Radweg blockiert. Eine Umleitung führt feldeinwärts und wir sehen von weitem einen großen LKW zur Baustelle fahren. Er wirbelt Unmengen an Dreck auf und zieht eine lange Wolke auf dem sandigen Weg hinter sich her. Oh je, da will ich nicht hindurchmüssen. Wir folgen weiter dem Umleitungspfad, er führt genau auf diesen Dreckweg zu. Da kommt ein weiterer Laster von der Baustelle zurück und wirbelt ebenso viel lose Erde auf. Hm, bis wir seinen Weg kreuzen, sollte er vorbeigefahren sein, und die Staubwolke sich weitestgehend verzogen haben. Ja, es sieht gut aus. Als wir fast da sind, kommt schon wieder ein Lastwagen mit Erde angebrettert. Neeein! Da haben wir keine Chance zu entkommen, selbst wenn wir uns beeilen. Heute hat es wieder über 30°C, ich sehe uns schon geteert und gefedert, mit einer dicken Schicht Dreck überzogen die Tore von Orleans passieren. Doch Wunder passieren: der Truck bremst ab, fährt plötzlich ganz langsam, so dass wir vorbei und hinweg kommen, ohne eingestaubt zu werden. Ist das denn zu glauben? Wir sind von der Rücksichtnahme ganz fassungslos und winken vom Radweg auf der anderen Seite aus dankend dem Fahrer zu.

Die Umleitung bringt uns wieder zurück zur Loire und diese führt uns nach Orléans. Wir bestaunen die mächtige Kathedrale und verbringen dann den Nachmittag auf einem Spielplatz. Auf den Spielplätzen hier gibt es nirgends Sand, nur Matten oder, wie hier, kleine Steine. Da müssen wir so aufpassen! Diese kleinen runden smartiähnlichen Dinger sehen verführerisch aus, wenn man einen Moment nicht hinsieht – da, schon ist es passiert, er hat einen Stein im Mund. Mindestens einen. Raus damit! Ah, und schon wieder einen. Wer kommt nur auf die Idee, dass dies ein adäquater Belag für einen Kinderspielplatz wäre?!

Bevor David nun Steine essen muss, fahren wir zu Romain. Wir haben ihn auf ‚welcometomygarden‘ gefunden und können in seinem Garten übernachten. Er ist zwar erst 19.30 Uhr zu Hause, aber wir können über das Seitentor schon mal rein, Zelt aufbauen, und Abendessen. Aus 19.30 Uhr wird dann eher 22.00 Uhr und ich krieche noch einmal aus dem Zelt, als David schon schläft, um Hallo zu sagen. Der Plausch geht nicht lange, schon hat das Baby bemerkt, dass ich weg bin und will sich nicht mehr beruhigen lassen. Die letzten Tage scheint er sich sehr auf mich zu fixieren. Oder brauch er nur Beruhigung wegen dem Schub? Oder wegen der ersten drei Mückenstiche?

Alte Bahnstrecken werden zu „grünen Wegen“

Die Blutsauger können wirklich belastend werden. So auch an den folgenden Tagen. Auf dem Weg nach Tours legen wir noch einen Tag Pause bei Valérie und Philipp ein, die Glieder ächzen und die Räder brauchen dringend etwas Zuwendung. Ein schleichender Platten an meinem Hinterrad schleicht mittlerweile nicht mehr, er kommt angerast – wieder und immer wieder. Es tut uns allen gut, an einem weiteren heißen Tag der Hitze in der Frische des Erdgeschosses des Hauses zu verbringen; doch wir schlafen später unterm Dach, da ist es unsagbar heiß. Man will Luft am Körper… aber die Mücken! Wir haben bereits unzählige Stiche. So, so viele. In der zweiten Nacht spannen wir unser Moskitonetz auf, doch mögliche Befestigungspunkte sind rar und man liegt doch immer mit Kopf, Arm und Bein im Netz und damit nicht stichsicher. Ich vermisse unser Zelt.

Trotz Mücken genießen wir unseren Aufenthalt bei den lieben Hosts in ruhiger Umgebung an der Loire, zwischen Bäumen, Wiesen, Fluss… und in direkter Nachbarschaft zum Atomkraftwerk. Ja, das mag vielleicht von außen die idyllische Lage stark eintrüben, aber das Dorf profitiert von der Nähe – das Atomkraftwerk sponsert die lokale Bibliothek, Infrastruktur, einen lokalen Markt. Man hat sich scheinbar gut arrangiert. 🤷

Auch die verschiedenen Schälchen mit Nüssen, Kräckern und Dips zum Aperitif sind hübsch arrangiert. Die Franzosen zelebrieren leidenschaftlich ihren Aperitif mit Snacks und Bier, bevor das Abendessen kommt – da muss ich dann mit David bereits ins Bett. Aber für leckeren Käse zum Nachtisch bin ich wieder da! Nun schnell die Leckerbissen probieren bevor das Baby merkt, dass ich weg bin. Njam. Ich liebe dieses Land.

Unsere lieben Hosts entlassen uns mit selbstgemachtem Schnaps für Till und einer selbstgemachten Marmelade für mich! Mit neuer Kraft in den Beinen verabschieden wir sie und das Atomkraftwerk. Heute ist es bei 27°C bewölkt und es weht eine erfrischende Brise, da ist die Deichfahrt schön und angenehm. Es geht vom Fluss weg und wieder dahin zurück, Wein ziert die Felder, es ist abwechslungsreich und führt uns auf einen Campingplatz mit Badewanne für das Baby. Er kann hier nach Herzenslust planschen und hat beim Spritzen so einen Spaß. Danach behebe ich die Fluten am Boden mit dem Schieber – wer kann das Bad schon zu Hause so extensiv zelebrieren?! 😅 Ja, wir genießen das Campen. Es gibt entlang der Flussradwege viele Campingplätze, man kann flexibel einchecken, die Nacht ohne Moskitos zubringen und es ist angenehm kühl!

Wein zieren unseren Weg.

Weniger kühl geht es nach Tours – unser nächstes Etappenziel auf der Pilgerroute. Als wir die Stadt und Zentralfrankreich hinter uns gelassen haben, verlassen wir die Loire. Nun knickt unser Weg von West nach Süd ab und es geht zunächst von den Radwegen auf die Straße, über hügeliges Land, an vertrockneten Sonnenblumenfeldern vorbei – die Zeit der gelben, lachenden Blüten haben wir verpasst. Zwischen den trockenen Felder gibt es bei 30°C kaum Schatten, und kaum Plätze, um eine Pause zu machen. Zweimal lassen wir uns unter Bäumen auf Privatgrund nieder. Aber dafür gibt es: Rückenwind! Damit kommen wir 63 km voran und erreichen einen kleinen süßen Campingplatz an der Vienne. Viele Blätter sind wegen der Hitze bereits abgefallen – es wirkt gleich ganz herbstlich. Zwischen den Kiefern spielen wir mit den Betzen (Zapfen) und zwischen den Bäumen Verstecken. David ist so neugierig auf die Welt und seit er sich selbst hochziehen kann, will er nun alles im Stehen erforschen. Auch das Abendessen geht derzeit nur als Stehimbiss. Vorm Einschlafen turnt er im Zelt auf den Isomatten von einer Matratze zur anderen, bis ihn der Schlaf übermannt. Träum süß, mein Kleiner. Einen süßen… kurzen… Traum.

Kathedrale von Tours

Im Traume wäre es uns noch vor einem Jahr nicht eingefallen, hinter einem Bushäuschen die Mittagspause zu verbringen anstatt darin – doch heute kommt es eben genau so. Wir folgen nun dem Lauf der Vienne, entlang dürrer Maisfelder oder abgeernteter Felder. Wir rätseln, was uns wohl mehr zu schaffen macht: der Seitenwind, das hügelige Terrain oder die 34°C. Zur Mittagszeit hat sich das Bushäuschen, das uns sonst so oft zur Pause diente, so sehr aufgeheizt, dass wir es drin kaum aushalten und uns lieber dahinter verziehen. Trotz hochsommerlicher Temperaturen haben wir uns an diesem Tag wegen angekündigtem starkem Regen in der Nacht eine eigentlich viel zu lange Etappe vorgenommen. Müde und erschöpft erreichen wir nach 60 km am Abend Chauvigny, genießen beim Sonnenuntergang noch den Blick von der Burg auf die Stadt und den Fluss. Dann setzt der Regen ein – früher als gedacht. Ob der uns Abkühlung bringt?



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